Bei diesem Buch handelt es sich um eine Sammlung von verschiedenen Aufsätzen zum Thema „Anarchismus“. Genauer, wie der Untertitel sagt: Zur Geschichte und Idee der herrschaftsfreien Gesellschaft. Wie immer bei solchen Sammelbänden sind die einzelnen Beiträge von unterschiedlichem Niveau, auch aus unterschiedlichen Gesichtspunkten verfasst.
Das Schwergewicht der Darstellung liegt dabei auf den ‚klassischen‘ (mehr oder weniger theoretischen) Anarchisten: Kropotkin (der wissenschaftliche Anarchist), Bakunin (die Geschichte des ersten Berufsrevolutionärs), Max Stirner (der Einzelne als Eigner seiner selbst) oder Gustav Landauer (individualistischer Anarchismus, zusammen mit William Godwin und Anselme Bellegarrigue). Biografisch-psychologische Skizzen wechseln ab mit Werkinterpretationen (zum Beispiel von Stirners Der Einzige und sein Eigentum), historischen Darstellungen (hier vor allem der in die Münchner Räterepublik verwickelte Anarchismus bzw. dessen Protagonisten Landauer und Mühsam).
Eine eigene Darstellung ist der ‚anarchistischen Pädagogik‘ gewidmet, wo wir dann auf Tolstoi stoßen. Hier bleibt der Autor des Artikels meiner Meinung nach zu sehr im 19. Jahrhundert kleben. Der einzige meiner Ansicht nach in Theorie und in Praxis wirklich relevante herrschaftsfreie Pädagoge, A. S. Neill mit seiner Heimschule Summerhill, wird zwar erwähnt, aber seine Wichtigkeit für (und seine Wirkung auf) die Pädagogik des 20. Jahrhunderts meines Erachtens unterschätzt – vielleicht weil der Autor des Artikels, Johannes Schwerdtfeger, gemäß Autorenverzeichnis von Haus aus Soziologe und nicht Pädagoge ist.
Die aus anarchistischen Motiven zum Terrorismus Greifenden werden ebenso geschildert, wie – dies sogar in diversen Aufsätzen – die Graben- und Richtungskämpfe der verschiedenen „Internationalen“, wo sich immer wieder Anarchisten an Marx und Engels bzw. deren Nachfolgern rieben. Und als Verlierer aus diesen Auseinandersetzungen hervor gingen.
So ganz nebenbei ergibt sich auch geografisch ein Bild des Anarchismus in Europa: Der Band behandelt vorwiegend Anarchisten aus Deutschland und der Schweiz, ein paar Franzosen noch. Im Falle der Schweiz sind es zwar weniger die einheimischen Anarchisten – die gab es auch, aber sie haben offenbar international zu wenig Furore gemacht, da sie zu wenig Theoretiker waren, zu wenig Schriften hinterlassen haben – als vielmehr die (vor allem russischen) Emigranten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, von denen viele zumindest eine Zeitlang in der Schweiz Asyl beanspruchen durften und gleichzeitig weiter ihre anarchistischen Argumente in Exil-Zeitungen und -Zeitschriften publizierten. Zürich, Genf und der Schweizer Jura waren dabei die Hotspots des Schweizer Anarchismus. Der Jura mit seinen kleinen, selbständigen Uhrmacherwerkstätten entwickelte dabei den genuin schweizerischen, praktischen Anarchismus.
Mit einer Ausnahme decken die Artikel vor allem den Zeitraum ab von der Februarrevolution 1848, mit einem Schlenker über die Russische Revolution, hin zur Räterepublik und dem Tod des – ich bin versucht zu sagen: letzten – deutschen Anarchisten, Erich Mühsam. Dessen Anarchismus, diesen Eindruck gibt uns der Aufsatz von Constanze Eisenbart, war mehr Sache des Gefühls, als einer kritisch-politischen Reflexion. Neben ein paar – mit Ausnahme Landauers – eher sekundären Anarchisten rund um die Räte-Republik gehörten zu Mühsams besten Freunden, so der Eindruck nach der Lektüre von Eisenbarts Aufsatz, offenbar Paul Scheerbart, Else Lasker-Schüler und der Maler Edvard Munch. Nicht unbedingt politische Denker der vordersten Front, auch wenn man sie in gewissem Sinn durchaus als „Anarchisten“ bezeichnen kann. Ob diese drei tatsächlich zu Mühsams engsten Freunden zählten oder ob es der Autorin eher um Name-Dropping ging, kann ich auf die Schnelle nicht beurteilen.
Im Buch fehlt faktisch der Zeitraum nach dem Zweiten Weltkrieg. Genau ein Aufsatz – von Ion-Olimpiu Stamatescu mit dem Titel Ökologie und Anarchie – behandelt den Anarchismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er nennt sich im Untertitel Anmerkungen zu Murray Bookchins Ökologie der Freiheit, behandelt also die frühen 1970er. Er hält auch genau, was der Titel verspricht: Es handelt sich nicht um viel mehr als um Anmerkungen, die relativ disparat und unsystematisch sind, nicht wirklich weiterführend. Nebenbei zu erfahren, dass auch Uwe Timm sich für den Öko-Anarchismus engagiert hat, bringt wenig, wenn man dann weder die Position Timms noch diejenige Bookchins näher erklärt erhält. Das ist in Anbetracht der Entwicklungen des 21. Jahrhunderts sehr schade, auch wenn man den Herausgebern zu Gute halten muss, dass wohl in den 1990ern die Relevanz öko-anarchischer Strömungen diverser Couleur in diesem Jahrhundert noch nicht einmal geahnt werden konnte.
Alles in allem bringt dieses Buch sicher die eine oder andere Erleuchtung, kann aber keine systematische Auseinandersetzung mit dem Anarchismus und seiner Geschichte ersetzen. Was wohl auch nicht bezweckt war.
Hans Diefenbacher (Hrsg.): Anarchismus. Zur Geschichte und Idee der herrschaftsfreien Gesellschaft. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1996.