Michiko Kakutani: Der Tod der Wahrheit

Trotz beschränkter Zeit ein paar Zeilen zu einem Buch, das sich ein längeres Lob verdient hätte. Kakutani ist nach meinem Dafürhalten die erste, die den Abgesang auf die Wahrheit bis zurück zu den Anfängen der Postmoderne auf überzeugende Weise dargestellt hat, bis zu Derrida, der mit poststrukturalistischen, dekonstruktivistischen Ansätzen schon vor 50 Jahren die Deutungshoheit über literarische Werke beanspruchen wollte. Insbesondere in der Germanistik hat dieser Nonsens große Wellen geschlagen, kein Dozent, der auf sich hielt (und der mit der „Moderne“ Schritt halten wollte) hat sich dieser sinnleeren Interpretationsmanie entzogen. Zum ersten Mal konnte ein Text alles bedeuten und der am Werk befindliche Hermeneutiker sich auf eine relativistische Sichtweise zurückziehen. Ich habe noch selbst diverse Diskussionen an der Universität erlebt, frucht- und sinnlose Unterhaltungen, da sich der zum Höheren berufene Textausleger schließlich und endlich stets auf seine persönliche, subjektive Sicht zurückzog und im Zweifelsfall (der mit einem Mangel an Argumenten einherging) einige Jahrzehnte vor Trump eine alternative Wahrheit konstatierte.

Waren es damals linksprogressive Kreise, die aus intellektuell-akademischen Dünkel solche Ansichten vertraten, haben sich nun hemdsärmelige Typen aus dem rechten Spektrum der Relativität angenommen (während sich die einstmals so klug dünkenden Geisteswissenschaftler verwundert die Augen reiben über die Tatsache, dass intellektuelle Hirngespinste außerhalb des Elfenbeinturms ganz reale Wirkungen entfalten). Kakutani bringt ein wunderbares Beispiel für die Art und Weise, wie sich Rechtspopulisten solcher postmoderner Argumentationsmuster bedienen:

Während des republikanischen Wahlparteitags 2016 erkundigte sich die CNN-Moderatorin Alisyn Camerota bei Newt Gingrich nach Trumps düsterer, nativistischer Law-and-Order-Rede, in der er Amerika unzutreffenderweise als Land darstellte, das von Gewalt und Verbrechen heimgesucht werde; daraufhin wurde sie von dem früheren Sprecher des Repräsentantenhauses brüsk zurückgewiesen. »Ich verstehe Ihre Ansicht«, sagte Gingrich. »Nach der derzeitigen Ansicht haben die Liberalen eine ganze Reihe von Statistiken, die theoretisch stimmen könnten, aber sie sind nicht dort, wo die Menschen sind. Die Menschen haben Angst. Die Menschen haben das Gefühl, dass ihre Regierung sie im Stich gelassen hat.« Camerota wies darauf hin, dass die Verbrechensstatistik keine liberalen Zahlen enthielt; sie kamen vom FBI.

Daraufhin fand folgender Wortwechsel statt:

Gingrich: Nein, aber was ich sage, ist ebenso wahr. Die Menschen empfinden es so.
Camerota: Sie empfinden es so, ja, aber die Tatsachen sprechen nicht dafür.
Gingrich: Als politischer Kandidat richte ich mich danach, wie die Menschen empfinden, und lasse Leute wie Sie mit den Theoretikern gehen.

An solchen Dingen fühlt man sich in postmodernen Kreisen selbstredend unschuldig. Die Autorin greift aber den vergessenen und illustrativen Fall von Paul de Man auf, einem der führenden Vertreter des dekonstruierenden Sprachunsinns, auf, der sich 1987 plötzlich mit seinen eigenen, rassistischen, antisemtischen und menschenverachtenden Texten aus dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert sah. An der Reaktion der postmodernen Kreise war dann deutlich zu sehen, dass sie nicht anders reagierten als Donald Trump, Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdogan, wenn ihnen Lügen nachgewiesen wurden: Man bestritt, dass die Aussage „so“ gemeint gewesen wäre, verweigerte sich nicht weniger der Wahrheit wie Trump bei der Zahl der Zuseher bei seiner Amtseinführung. Sätze wie „Wir sind entschlossen, uns selbst jede Kreuzung mit ihnen [den Juden] zu verbieten und uns spirituell von ihrem demoralisierenden Einfluss im Bereich des Denkens, der Literatur und Künste zu befreien“ lassen eigentlich wenig Interpretationsspielraum (noch dazu in einer dezidierten Pro-Nazi-Zeitschrift geäußert), aber die dekonstruktive Schule der Anhänger de Mans wollte darin gänzlich anderes entdecken: „Sie äußerten die Vermutung, seine Worte sollten eigentlich das unterlaufen, was sie auszusagen schienen, oder in seinen Worten stecke so viel Ambiguität, dass man ihm keine moralische Verantwortung aufbürden könne“. Dekonstruktivisten scheinen bestens geeignet, den ohnehin häufig wechselnden Posten des Präsidentensprechers im Weißen Haus zu besetzen.

Kakutani beschreibt mit zahlreichen anderen Beispielen den Weg von Derrida zu Trump – und sie legt den Finger in genau diese Wunde: Dümmlich-arrogante und völlig abgehobene, sich hinter dunklen Wortwolken versteckende Geisteswissenschaftler (selbstverständlich liberal und aufgeschlossen) werden aufgrund ihrer intellektuellen Unredlichkeit und/oder Dummheit zu Wegbereitern nationalistisch-rechtspopulistischer Figuren. Weil es ihnen gar nie um Wissenschaft ging, um Logik, um Rationalität, sondern um reine Begriffsonanie. Und weil sie wohl selbst nicht damit rechneten, dass ihre Ergüsse einstmals Auswirkungen auf die Realität haben würden. – Das Buch – eine Empfehlung!


Michiko Kakutani: Der Tod der Wahrheit. 2019: J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH. ebook

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