Christoph Türcke: Digitale Gefolgschaft. Auf dem Weg in eine neue Stammesgesellschaft. +++ abgebrochen

Was geschieht, wenn sich fundamentale Ahnungslosigkeit mit dem Bedürfnis paart, zu allem und jedem etwas zu sagen? Sofern es sich – wie hier – um einen emeritierten Universitätsprofessor handelt, so entsteht ein Buch wie das vorliegende, in den meisten anderen Fällen waren es früher die Leserbriefseiten, die da herhalten mussten, im digitalen Zeitalter findet sich für den aufgeregten Besserwisser stets ein Forum, eine Facebookgruppe – irgendeine Plattform, wo er oder sie von der Bescheidenheit ihrer geistigen Ergüsse zeugen dürfen.

Herr Türcke echauffiert sich hier auf den ersten 100 Seiten (den Rest habe ich mir erspart) über – tja, das weiß man gar nicht so recht. Auf jeden Fall mal über das Internet, das einen Hort der Anarchie bildet. Und über Google und Facebook, die zwar „in der Lage sind, tief ins Internet einzugreifen, es aber nicht im Griff haben. Niemand hat das. Es ist unregierbar.“ Wenn man mit solchen Ansichten konfrontiert wird, erwartet man als Leser, dass aus dieser – ohnehin fragwürdigen Feststellung, denn Unregierbarkeit ist per se noch nichts Negatives – Schlüsse gezogen werden. Man wartet, aber vergebens, es bleibt bei solch halbseidenen Feststellungen, aus denen man einzig die reservierte Haltung des Autors gegenüber einer ihm Angst machenden Entwicklung spürt. Diese Skepsis bezieht sich nicht nur auf rezente, technische Entwicklungen, Türcke geht zurück bis zu den Manufakturen, der Industrialisierung, alles ist des Teufels und stets fragt man sich, was der emeritierte Philosoph denn gern an deren Stelle gesehen hätte, welche Form der Menschheit ihm genehm wäre (diese Frage stellt sich natürlich auch in Bezug auf die Digitalisierung, Computerisierung: Möchte er Büros wieder mit Ärmelschonern und mechanischen Schreibmaschinen ausstatten, mit Lochkarten oder für die Zählung von Artikel Kerben schnitzen?)

Aus jedem seiner Sätze ist die erwähnte Ahnungslosigkeit spürbar: So schreibt er davon, dass Userverhalten in Algorithmen verpackt würde (was noch richtig ist) und folgert weiter, dass diese nicht immer von Google oder Facebook kommen müssten. „Auch diese beiden Riesenplattformen sind nicht das Internet“ (Hervorhebung im Original). Derart betuliche Auslassungen haben was großväterlich Naives, so auch, wenn er den virtuellen Raum beschreibt (bzw. was er sich darunter vorstellt): „Dieser Raum ist gespenstisch. Dabei besteht er lediglich aus glasfaserkabel- und halbleitergestützten Algorithmenkonfigurationen.“ Das hat schon wieder fast Witz, wenn auch ungewollt. An anderer Stelle vermerkt er erbost, dass nirgendwo über das Internet abgestimmt worden wäre. Von der Dummheit dieser Bemerkung einmal abgesehen (wie stellt sich Türcke das vor – Volksabstimmungen über die Entwicklung von Radios, Fernsehern, elektrischen Nasenhaarentfernern und dem Internet?) ist hier eine Form von basisdemokratischer Erregung zu spüren, die, wenn von linksliberaler Seite vorgetragen, den Nimbus absoluter Gerechtigkeit in sich trägt, aber in Empörung übergeht, wenn das so zur Abstimmung aufgerufene Volk dann Trump oder die AFD wählt.

Türcke kritisiert neben Internet, Digitalisierung (wie er diese mit der Stammesgesellschaft in Einklang bringen will, wurde mir nicht klar; aus den wenigen Zeilen war jedoch deutlich zu erkennen, dass Anthropologie und Evolutionsbiologie seine bevorzugten Wissensgebiete nicht sind – wobei es durchgehend leichter ist festzuhalten, wovon der Autor keine Ahnung hat), er kritisiert also neben den genannten derzeitigen Entwicklungen auch Industrialisierung, Deregulierung (und ihr Gegenteil), Wirtschaftsliberalismus, die Heimarbeit, den Kolonialismus und – völlig sinnfrei eingefügt – das Kompetenzmodell in der Pädagogik (wobei er dieses verkürzt und polemisch darstellt – aber geschenkt). Dass er dabei manchmal Recht hat lässt sich gar nicht vermeiden, in welchem Zusammenhang aber etwa die mehrfach erwähnten Slums afrikanischer oder asisatischer Großstädte mit seinem Thema stehen, ist nicht ansatzweise zu erkennen. (Außer dass er konstatiert (oder bemängelt?), dass selbst Slumbewohner oder Kriegsflüchtlinge Smartphones verwenden, eine Tatsache, die mir ohne weitere Ausführungen wertfrei zu sein scheint.) – Ich habe mich nach anderen Publikationen des Autors umgesehen und bin (wiewohl ansonsten eher vorsichtig) der festen Überzeugung, dass man sich das Lesen sämtlicher Bücher Herrn Türckes schenken kann. Die Kritik (die etwa sein Buch über ADHS auf sich gezogen hat, dass er nämlich völlig unbeleckt von jeglicher Fachkenntnis drauflos schreibe) ist nach den nur 100 gelesenen Seiten für mich mehr als nachvollziehbar: Disparate Teile werden da zu einem Buch verfugt, das völlig strukturlos, ohne inneren, logischen Zusammenhang in freier Assoziation dargeboten wird. Hauptsache man ist wichtig – und kann noch aus dem größten Nonsens finanziellen Gewinn ziehen.


Christoph Türcke: Digitale Gefolgschaft. Auf dem Weg in eine neue Stammesgesellschaft.

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