Auf 350 Seiten erfährt man neben biographischer Details auch etwas über die Verfasstheit des italienischen Volkes (nach dem Ersten Weltkrieg), aber nicht nur: In einer Art Prolog (betitelt mit „Das Erbe“) wird der Umgang mit der faschistischen Vergangenheit bzw. mit der Figur des „Duce“ analysiert und man muss mit dem Autor zur Feststellung gelangen, dass mit dem, was in Österreich oder Deutschland mit „Aufarbeitung der Vergangenheit“ betitelt wird, es in Italien nicht weit her ist. Eine derart unverhohlene Begeisterung für den Faschismus wäre hierzulande zumindest offiziell verpönt, während man das in Italien eher als Folklore zu betrachten scheint.
Mussolinis Werdegang hat einiges mit dem von Hitler gemeinsam: Ihre kleinbürgerliche Herkunft, die sich einerseits als Hass und Wut gegenüber Adel und Großbürgertum zeigt, andererseits aber auch die Sehnsucht beinhaltet, von dieser großen Welt anerkannt zu werden. Beide haben sozialistische Wurzeln (Hitler hat die seinen gut verborgen, das Foto, das ihn bei einer Demonstration für Eisler zeigt, wäre ihm sicher peinlich gewesen), beide eint das Interesse für Literatur, Philosophie, deren Kenntnis sie sich auf autodidaktischem Weg anzueignen bemühen. Zum Intellektuellen aber fehlt ihnen (wie jeder zum Totalitarismus neigenden Person) die Bereitschaft, sich mit der Komplexität von Problemen auseinanderzusetzen, sich dem Für und Wider von Argumenten zu widmen; immer sind es die einfachen Lösungen, die bevorzugt werden und die ob ihrer Einfachheit zur Radikalität führen, einer Radikalität, für die das Schicksal des Einzelnen bedeutungslos wird. Wie vieles andere ist auch der Werdegang Mussolinis von Zufällen geprägt (die dann post festum gerne als Vorsehung bezeichnet werden).
Nachdem sich Mussolini mit der Linken überworfen hat, bedient er sich nach dem Ersten Weltkrieg einer kleinen faschistischen Partei als Basis für seine Karriere. Die im Sande zu verlaufen scheint, auf eine gescheiterte Existenz hindeutet, dann aber – vor allem durch die Schwäche der anderen Parteien (wie in der Weimarer Republik) – zu einem auch für ihn überraschenden Aufschwung führt, der 1922 im „Marsch auf Rom“ gipfelt, ein Marsch, der nachträglich verklärt wird, in realiter aber erst durch die Zögerlichkeit von Parteien, König und Militär zu einem Erfolg wird, mit dem noch nicht einmal die Faschisten gerechnet hatten. Dann aber verfährt man ähnlich wie später Hitler: Schlägertruppen dominieren das Geschehen, ein schwacher und das Vertrauen der Bürger enttäuschender Staat setzt dieser anarchischen Gewalt nichts entgegen – bis sich ein weitgehend auf Einschüchterung und Gewalt stützendes Regime endgültig etablieren kann.
Mussolini träumt wie sein faschistischer Nachfolger im Norden von „Lebensraum“: Natürlich nicht im Osten, sondern im gesamten Nordafrika, in Abessinien und im gesamten Mittelmeerraum. All sein Handeln, seine Politik hat etwas Grosssprecherisches, etwas (im Nachhinein) fast kindisch pubertär Anmutendes, wenn es da von „Größe“, „Ehre“ und „Macht“ schwärmt, die – wie bei einem kleinen Jungen – schlicht darin zu bestehen scheint, die Sandkiste des Rivalen zu okkupieren und sich zum Herrscher über den Spielplatz auszurufen. Mit den keineswegs kindischen Konsequenzen von Millionen Toten. Woller legt ein besonderes Augenmerk auf den Rassismus Mussolinis (der oft klein geredet wird): Interventionen zugunsten von Juden bleiben die absolute Ausnahme, auch nachdem er von Hitler und Himmler über die Lage im Osten informiert worden ist. Er scheint im Gegenteil mit dieser „Lösung“ einverstanden gewesen zu sein, wobei er zu dieser Zeit (ab 1941) von Hitler und dessen Wohlwollen vollkommen abhängig geworden war und sich Widerspruch auch nicht mehr hätte leisten können.
Trotzdem ist Italien anders als das faschistische Deutschland, was sich besonders im „Putsch“ von 1943 erweist: Der kein Putsch war, sondern eine Abstimmungsniederlage Mussolinis im „faschistischen Großrat“, eine Abstimmung, die er noch nicht einmal hätte zulassen müssen und deren Ergebnis er hätte ignorieren bzw. seine Macht hätte durch die ihm ergebenen faschistischen Paramilitärs sichern lassen können. Und so passiert ihm seine Absetzung, die er anfangs kaum ernst genommen hatte und er fügt sich dem ohne allzu großen Widerstand. Erst seine „Befreiung“ durch deutsche Truppen und die Installierung der Marionettenregierung von Salo lässt seine Herrschaft noch einmal andauern – gewährt von Hitlers Gnaden und mit beschränkten Machtbefugnissen. Bis zu seinem Ende hat man immer den Eindruck (wie auch bei Hitler), dass sich die Geschichte einen – allerdings tödlich-ernsten – Scherz erlaubt hat, indem es mediokren Rabauken erlaubt hat, eine Zeitlang ihre abstrusen Machtträume zu verfolgen. Oder aber diese Sichtweise ist grundsätzlich falsch, weil sie Staatsführern implizit eine gewisse moralische und intellektuelle Befähigung zuspricht, derer sie aber ebenso entbehren wie auch der ganz durchschnittliche Homo sapiens: Denn Trump oder Bolsonaro sind weder moralisch noch geistig den genannten Faschisten überlegen. Es sind vielmehr (bisher) die konstitutionellen Umstände, die größeres Ungemach verhindern.
Das Buch ist eine überaus gelungene, psychologisch feine Darstellung eines Diktators, dem das blinde Schicksal eine Macht verlieh, der sich der meist feige, oft ängstliche und charakterschwache Frauenheld als unwürdig erwies. Ein Maulheld, der unter anderen Umständen (wie sein Pendant Hitler) bestenfalls eine Gaststube hätte unterhalten können und der zu seiner eigenen Überraschung in die Lage kam, seine verqueren Träume in Ansätzen zu verwirklichen. Dessen Faszination zu einem Gutteil aus der ihm zukommenden Macht resultierte, der weder Monster war noch ein bloß unschuldiges Opfer der Umstände, ein oft kleingeistiger Durchschnittsmensch mit rhetorischer Begabung (all das könnte man auch von Hitler sagen). Dies alles zum Ausdruck zu bringen ist Woller hervorragend gelungen, eine wirklich stimmige Darstellung.
Hans Woller: Mussolini. Der erste Faschist. München: Beck 2016.