Linus Giese: Ich bin Linus

„Ich bin Linus.“ – Was für die meisten von uns ein völlig normaler Alltagssatz ist, den wir unter Umständen mehrmals täglich so verwenden, wenn wir uns irgendwo vorstellen (natürlich mit dem jeweils eigenen Namen), und bei dem wir uns wenig bis gar nichts denken, stellte für Linus Giese im Oktober 2017 ein richtiggehend kathartisches Ereignis dar. Nämlich, als er den Satz zum ersten Mal gegenüber einem Barista in einer Starbucks-Filiale in Frankfurt äußerte. Denn bis dahin hatte er sich mit dem weiblichen Vornamen bezeichnet, dem man dem Baby nach der Geburt gegeben hatte und der in seinen sämtlichen amtlichen Dokumenten stand. Allenfalls im Geheimen träumte er davon, ein Junge zu sein, ein Junge wie Linus in der Comic-Strip-Serie Peanuts.

Auch ich hatte ihn noch unter diesem weiblichen Vornamen kennen gelernt, zwei Jahre vor seinem Coming-out, an der Buchmesse in Leipzig. Das heißt, ich kannte ihn, bzw. sein Buchblog (Buzzaldrins Bücher – es existiert noch immer) schon länger, war es doch schon 2015 einer der Blogs, in denen auch über anderes als Feen und Elfen, Gremlins und Orks berichtet wurde. Er war, als ich ihn 2015 kurz persönlich traf, so etwas wie ein Star unter den Buchbloggern. Wir haben damals sogar ein paar Worte miteinander gewechselt, aber ich glaube nicht, dass er sich noch an mich erinnert. Er war (und ist) ein Star; ich war (und bin es noch) ein kleines Würstchen.

Item. 2017 gehörte ich zu denen, die es sozusagen brühwarm aus einem Facebook-Eintrag erfuhren: Er hatte dem Starbucks-Barista für die Anschrift seines Pappbechers den Namen Linus angegeben. Endlich den Namen (und damit auch das Geschlecht) öffentlich gemacht, mit dem er sich seit langem identifizierte. Jetzt, im August 2020 (vordatiert auf September), ist bei Rowohlt das Buch Ich bin Linus erschienen, in dem Giese aus der Zeit vor jenem Ereignis, aber auch aus den Jahren danach erzählt.

Das Buch hier zusammenzufassen, ergibt keinen Sinn. Die baren Fakten aus Gieses Leben sind rasch erzählt: Ein Studium der Kunstgeschichte und Germanistik (nach eigenen Angaben ein unauffälliger Student), später längere Zeit arbeitslos (da zu schüchtern und zu unsicher auf der Stellensuche), dann Buchhändler in Frankfurt und Berlin. Doch diese Äußerlichkeiten sind es ja nicht, wegen derer Giese sein Buch geschrieben hat, sondern eben der Umstand, dass er ganz offen, auch im Internet, dazu steht, ein trans Mann zu sein und nun hier seine bisherigen Erfahrungen zusammen fasst.

Giese ist wirklich sehr offen und ehrlich, ob es nun um seine Sexualität geht, um seine Gefühle auch jenseits des Sexus, oder um seine Ängste. Bei allem fehlt aber jeder Exhibitionismus. Aber er vermittelt uns vieles von seinem Leben und Fühlen, z.B. die Angst, nicht akzeptiert zu werden ebenso, ebenso wie die Angst vor Hatern und Trollen, die ihn auch außerhalb des Internet heimsuchen – im wahrsten Sinne des Worts. Er beschreibt seinen Weg, der ihn nicht einfach von einer Frau zu einem Mann macht, sondern der vielleicht eine Position zwischen den Geschlechtern ausfüllen wird. Letztlich ist es wohl so, dass der Umstand, eine trans Person zu sein, auch Gefühle und Erlebnisse beinhaltet, die einer cis Person nicht zugänglich sind. Dasselbe gilt sicher auch im Umkehrschluss, aber da cis Personen – das heißt: Leute, die sich eindeutig dem einen oder anderen Geschlecht zuordnen – in unserer Gesellschaft die Mehrheit bilden, gelten diese Gefühle und Erlebnisse als Norm, die der trans Personen als nicht der Norm entsprechend, als „nicht normal“ oder „abnormal“. Von da ist für viele der Schritt zum „Krankhaften“ ein kleiner. Das ist aus vielen Gründen schade. Wir versperren wir uns damit zum Beispiel zusätzliche Möglichkeiten und Chancen einer gesellschaftlichen Weiterentwicklung. Aber die Angst vor Neuem, die Angst, sich selber in Frage gestellt zu sehen, überwiegt bei so vielen. Und ob Hautfarbe, Geschlecht oder Religion: Diese Angst schlägt beim so genanten „Homo sapiens“ noch jedes Mal in Hass und Aggression um. Auch als Plädoyer gegen diesen Hass und für mehr Diversität hat Linus Giese dieses Buch wohl geschrieben.

Es ist im Übrigen keine Gebrauchsanleitung für den Umgang mit trans Menschen. Nicht einmal eine für den Umgang mit Linus Giese. Zu verschieden sind die Menschen, auch die trans Menschen, zu verschieden die Stimmungen auch eines einzelnen Menschen, wie er ja selber schreibt. Sicher, Giese gibt ein paar Tipps – zum Beispiel zur Sprache, die verwendet werden kann (oder eben nicht sollte). Zu gut gemeinten, aber schlecht ankommenden Bemerkungen. Zu Floskeln wie „im falschen Körper geboren“, die irgendwie nach missglückter Seelenwanderung riechen (mein Nachsatz). Eigentlich hätte er auch den Untertitel seines Buchs – Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war – bemängeln müssen, sagt er doch selber im Buch, dass er nicht mehr, wie noch vor seinem Coming-out, davon träume, ein „Mann“ zu sein, dass er zwar nun ein Mann, aber ganz sicher kein „Mann“ im klassischen Sinne sei (und er spricht hier nicht von seinem anders gebauten Körper). Vielleicht, so fährt er fort, wolle er gar kein „Mann“ im klassischen Sinn mehr werden. Vielleicht sei gerade das Leben in der Transition das Leben, das ihn erfülle. Aber das könne er jetzt noch gar nicht wissen.

Alles in allem treffen wir in diesem Buch einen sensiblen und deshalb verletzlichen Menschen, einen Menschen auch mit großen Stimmungsschwankungen. Ein scheuer und (zu Recht!) verängstigter Mensch, der sich dann doch immer wieder aufrafft und mit der Regenbogen-Fahne in der Hand weiter kämpft. (In Hinsicht dieser Hartnäckigkeit im Kampf für etwas, das man einmal als richtig beurteilt hat, erinnert er mich ein wenig an Martin Luther. Auch der verdankte seine – allerdings theologische – neue Einsicht einem kathartischen Moment der Erleuchtung. Er schlug seine 95 Thesen im Alter von 34 Jahren an – im selben Alter also, in dem auch Giese sein Buch veröffentlicht hat. Ich fühle mich versucht, um das Bild der Seelenwanderung in den „falschen Körper“ vollends ad absurdum zu führen, mir vorzustellen, Martin Luthers Geist wäre in Baby Giese gefahren: „Ich bin Linus. Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ Ein Gedankenblitz, der insofern beunruhigt, als die Reformation in den folgenden Jahrhunderten zu immer wieder aufflackernden Religionskriegen führte. Nicht, dass ich glaube, Linus Giese wäre es um einen Krieg zu tun. Aber das war es ja Martin Luther auch nicht. Es wäre – wenn schon – zu wünschen, dass wir diese Transition ohne Blutvergießen hinter uns bringen könnten. Leider bin ich diesbezüglich Pessimist …)

Im Ernst: Als alter weißer cis Mann muss ich gestehen, dass ich hier auf einen Menschen gestoßen bin, dessen Denken und Sein ich letzten Endes nicht nachvollziehen kann. Was nicht bedeutet, dass ich ihn oder Personen, die ihm ähnlich sind, verurteile.

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