Lessings Bearbeitung des Faust-Themas ist (leider?) Fragment geblieben. Ein paar Szenen sind ausgearbeitet vorhanden – das meiste müssen wir aber Briefen Dritter entnehmen. Diese stimmen in den großen Zügen so ziemlich miteinander überein. Einer dieser Zeugen (ein gewisser v. Blankenburg – leider finde ich auf die Schnelle nicht heraus, wer gemeint sein könnte; von den Lebensdaten und der Beschäftigung mit Literatur her könnte Christian Friedrich von Blanckenburg (1744-1796) in Frage kommen) beschreibt Lessings Plan wie folgt:
Die Scene eröffnet sich mit einer Conferenz der höllischen Geister, in welcher die Subalternen dem obersten der Teufel Rechenschaft von ihren auf der Erde unternommenen und ausgeführten Arbeiten ablegen. […] Der letztere, welcher von den Unterteufeln erscheint, berichtet, daß er wenigstens einen Mann auf der Erde gefunden habe, welchem nun gar nicht beizukommen sei; er habe keine Leidenschaft, keine Schwachheit; in der näheren Untersuchung dieser Nachricht wird Fausts Charakter immer mehr entwickelt; und auf die Nachfragen nach allen seinen Trieben und Neigungen antwortet der Geist: er hat nur einen Trieb, nur eine Neigung: einen unauslöschlichen Durst nach Wissenschaften und Kenntniß – Ha! ruft der Oberste der Teufel aus, dann ist er mein, und auf immer mein und sicherer mein, als bei jeder anderen Leidenschaft!
Dieser Plan wird bestätigt durch J. J. Engel, der in einem Brief an Lessings Bruder Karl den Anfang des Faust ziemlich gleich schildert, ja die Szene gar wörtlich rekonstruiert. Was nun so aussieht, als ob der Drang nach Wissen bzw. Wissenschaft für Lessing Teufelszeug gewesen wäre, wird vom Schluss des Dramas (so weit es durch eben diese Dritten überliefert ist) ad absurdum geführt. Faust wird erlöst; Gott hat den Teufeln nur Gaukeleien vorgeführt; der Drang nach Wissen ist per se das Eintrittsbillett ins Paradies.
Wir finden beim Faust nur wenig Text, der von Lessing selber stammt: Vom ersten Aufzug sind die ersten beiden Auftritte fertig ausgearbeitet und überliefert, von den beiden folgenden Auftritten des ersten Aufzugs existieren kurze Inhaltsangaben Lessings. Ausgearbeitet ist dann wieder die dritte Scene des zweiten Aufzugs, in der Faust eine Art Musterung der sich ihm zum Dienst anbietenden Teufel durchführt. (Auch das, so weit ich sehe, eine durchaus neue und originelle Idee Lessings.)
Alles in allem kann man wenig zu diesem Fragment sagen; vor allem die Teufel können darin kaum Kontur erlangen. Dass dem kühl-rationalen Lessing das Aufwallende sowohl des D. Faust der Historia, wie des Faust, den der Stürmer und Dränger Goethe vor allem im so genannten Urfaust dargestellt hatte, ebenso abgeht, wie dem ganzen Stück irgendein (religiöses) Eifertum, hat Lessing wohl an diesem Stoff scheitern lassen; auch wenn von Blankenburg in seinem Brief behauptet, der Autor habe das Drama bereits fertig gehabt und nur noch ein paar Änderungen vornehmen wollen, bzw. warten, bis das in Deutschland gerade grassierende Faust-Fieber abgeklungen sei, um dann seine Version zu publizieren. Dabei sei ihm allerdings sein Manuskript abhanden gekommen.
Das ist gewiss schade, denn Lessings Faust zeichnet sich durch einige originelle Züge aus. So ist bezeichnenderweise die erste Beschwörung, die Faust bei Lessing gelingt, nicht eine des Erdgeistes, sondern eine des Aristoteles!
Dem sei, wie dem sei. Der Gedanke eines Faust, der vom Wissensdrang durchdrungen sich dem Teufel verschreibt, fasziniert auf den ersten Blick. Auf einen zweiten sehen wir allerdings so einige Probleme – unter anderen dies, dass ein Wissenschaftler im aufklärerischen Sinne wohl kaum einen Teufel beschwören würde. Ob dies der Grund war, warum Lessing das Stück liegen ließ, oder ob er tatsächlich ein bereits beendetes verloren hat? Wir wissen es nicht. Was geblieben ist, lässt die fragmentarische Überlieferung so oder so bedauern. Lessings Ansatz war originell genug, dass man sich ein ganzes Stück gewünscht hätte.