Samuel Langhorne Clemens, der sich als Autor „Mark Twain“ nannte, hielt sich zeit Lebens für einen großartigen Geschäftsmann. Leider bestätigten die Fakten seine Meinung nicht: So hatte er einen Verlag gegründet, zunächst einmal in der Absicht, die Einkünfte aus den eigenen Büchern nicht mehr mit einem fremden Verleger teilen zu müssen. Da aber der Verlag von seinen eigenen Büchern nicht wirklich leben konnte, verlegte er auch anderer Leute Schriften. Darunter befanden sich die Memoiren des Ulysses Grant, die sogar ein großer Erfolg waren – leider der einzige, den Clemens‘ Verlag vorweisen konnte. Als Clemens und sein Verlag dann noch in eine neuartige Setzmaschine investierten, war dies der Anfang vom Ende. Zunächst erwies sich die Maschine als äußerst anfällig für Pannen; dann stellte sich heraus, dass unterdessen mit der so genannten „Linotype“ eine bessere Maschine den Markt erobert hatte. Clemens blieb auf seinen Investitionen sitzen, sein Verlag ging Konkurs und auch er selber musste Privatkonkurs anmelden. Clemens hatte nicht nur einen schönen Teil des Privatvermögens seiner Frau verspekuliert, auch die Reserven aus seiner schriftstellerischen Tätigkeit waren verloren. Dazu kam das Geld, das Freunde, Verwandte, aber auch Fremde in den Verlag bzw. die Setzmaschine investiert hatten. Dieser Schaden belief sich auf ca. 190’000 $ (wir sind im Jahr 1894). Clemens, den das schlechte Gewissen plagte, suchte nach einem Weg, diesen Betrag wieder zurück zahlen zu können, und auch selber wieder auf einen grünen Zweig zu kommen.
Die Lösung war das vorliegende Buch, bzw. die dahinter stehende Reise um die Welt. Clemens hatte schon früher recht viel Geld damit verdient, dass er in verschiedenen Städten in dazu angemieteten Sälen humoristische Vorträge gehalten hatte. Dies wollte er nun wiederholen – aber in großem Stil. Er organisierte (oder ließ organisieren – so genau weiß ich das nicht) eine Reise durch (fast) alle Staaten, in denen Englisch gesprochen wurde.
Den Anfang machte eine 40-tägige Tour durch die USA und Kanada. (In seinem Buch würde er diesen Teil allerdings in einem halben Nebensatz abtun als Vorbereitung auf die Welttournee. Dafür fingierte er sogar einen Start in Paris.) Von der Westküste des nordamerikanischen Kontinents ging die Reise dann zunächst zu den Sandwich-Inseln, nach Honolulu und zu den Fidschi-Inseln. Bei diesem Teil seiner Reise ist der englische Seefahrer Cook im Text allgegenwärtig. Er verschwindet dann, als Clemens nach Australien weiterreist (Sydney, Adelaide), und taucht selbst dann nicht wieder auf, als Clemens neuseeländischen Boden betritt. An beiden Orten, Australien wie Neuseeland, fällt die im Großen und Ganzen positive Beschreibung der indigenen Bevölkerung auf – Mark Twain ging offenbar sehr vorurteilslos an diese heran. Von Australien ging es nach Ceylon, wie man die Insel damals noch nannte, von da nach Bombay (auch hier verwendet Twain natürlich den im weißen Sprachraum damals üblichen Namen). Diese Stadt mit ihrem Gewimmel an Menschen, Kleidungen und Religionen fasziniert ihn. Allerdings schildert er die indigene Bevölkerung Indiens eine Spur ironischer und herablassender, als diejenige Australiens oder gar Neuseelands. Seine einheimischen Diener oder eine Eisenbahnfahrt auf dem indischen Subkontinent sind für ihn immer wieder Anlass, sich ironisch über Sitten und Gebräuche im Land aufzuhalten. Das mag, wo es sich um Religion handelt, noch hingehen – lässt doch Twain auch an christlichen Priestern jeder Couleur kaum einen guten Faden. Aber es fällt auf, dass er die Berechtigung Großbritanniens, Indien als Kolonie zu halten, nirgends anzweifelt, ja bei den Schilderungen von Aufständen der Inder ganz eindeutig die Position der Briten vertritt. Obwohl also nach seiner eigenen Aussage Bombay bei ihm den größten und bleibendsten Eindruck hinterlassen hat, scheint er den Indern gegenüber wenig Menschenliebe aufbringen zu können. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass ihn – neben der Geschichte der Auflösung der Verbrecherbande der Thugs – offenbar die Begräbnisriten der Parsen und der Hindu am meisten zu faszinieren scheinen. (Und auch über die Witwenverbrennungen lässt er sich ausführlichst aus.) Besser als der indischen Bevölkerung ergeht es dann wieder den Zulus in Südafrika, das er nach einem Abstecher nach Mauritius zum Abschluss seiner Tournee besucht. Doch in keinem der Länder, die er besucht hat, scheint er einem Stopp der weißen Herrschaft wirklich das Wort zu reden.
Im Übrigen raunzt Twain sehr viel in diesem Buch. Man mag einiges davon der Tatsache zuschreiben, dass er praktisch während der ganzen 13 Monate, die die Vortragsreise dauerte, krank war (er litt an einer immer wieder kehrenden Erkältung sowie an einem schmerzhaften Furunkel an seinem Hinterteil) – einiges ist aber auch Clemens‘ im Alter immer mehr zunehmendem Pessimismus, was die Entwicklung der Welt und der Menschen betrifft, zuzuschreiben.
Wie alle von Mark Twain Reiseerzählungen ist auch diese recht disparat aufgebaut: ein Gemisch von eigentlicher Reisebeschreibung, eingeflochtenen historischen Dokumenten*) und Fiktion – kleinen Kurzgeschichten, die er am passenden Ort einflicht. Das, zusammen mit der Tatsache, dass Twains viel gerühmter Humor ihn mehr und mehr im Stich lässt (Clemens erfuhr nach der Reise, in London, unter dem Schreiben des Buchs, vom Tod seiner Lieblingstochter in den USA – was seine Misanthropie wohl nur befeuerte), macht aus dem Buch ein in sich ungleiches Werk, wie es der Herausgeber meiner Ausgabe in seinem Nachwort formuliert. Aber Mark Twain war – von seinen ganz frühen Kurzgeschichten einmal abgesehen – noch nie der simple Autor humoristischer Geschichten, als der er im Publikum schon zu seiner Zeit gehandelt wurde und als der er bis heute gehandelt wird. Dennoch (oder besser: genau deswegen) sollte man auch seine weniger bekannten Werke lesen.
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*) So widmet er mehrere Seiten einem Referat historischer Dokumente über die Zerschlagung des Verbrecherrings der Thug durch die britischen Behörden – worin, nach einem kurzen Bezug auf einen Thug, der auch in Eugène Sues Die Geheimnisse von Paris vorkommt, wenig Literarisches steckt. Aber Mark Twain schwelgt in diesem seinen Buch gern und oft in Beschreibungen grausamer Taten – ob es nun die dieser Verbrecherbande waren oder die von Indern an britischen Truppen begangenen in den verschiedenen Freiheitskriegen der Epoche.
Ich habe das Buch in folgender Ausgabe gelesen:
Mark Twain: Dem Äquator nach. Übersetzt von Ana Maria Brock. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Helmut Wiemken. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag, o.J.