Michelle Obama: Becoming

Die Autobiographie der ehemaligen First Lady zerfällt in zwei Teile: Die Zeit ihrer Kindheit und Jugend in der South Side in Chikago, ihres Kampfes um eine gute Schulbildung und gute Noten, die sie schließlich bis nach Harvard bringen und die etwa 10 Jahre, in denen sie hauptberuflich die Frau eines Politikers war, ihrem Mann jenen Rückhalt geboten hat, der in einer solchen Position gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

Ich habe vor allem die erste Hälfte des Buches gern gelesen, die authentische Beschreibung der ersten Lebensjahrzehnte in einem Chikagoer Vorort, der anfangs (Obaman ist 1964 geboren) noch von Schwarzen und Weißen bewohnt war, sich später zunehmend zu einem verrufenen Ghetto entwickelte. Diesen Prozess beschreibt sie als eine Art „self-fullfilling-prophecy“: Es ist die Angst vor einem solchen Abgleiten, die viele Familien, die sich das leisten können, dort wegziehen lassen – unterstützt von Immobilien-Maklern, die im Verbreiten einer solchen Angst ein Geschäftsmodell sehen. Ausgelöst wurde (und wird) diese Entwicklung von einem Niedergang der klassischen Schwerindustrie und der mit ihr eng verbundenen Autoindustrie, die ihre herausragende Bedeutung in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verlieren bzw. deren Arbeitsplätze automatisierten, computergesteuerten Produktionsabläufen zum Opfer fallen. In einem solchen Umfeld wächst Obama auf – und wären ihre Eltern nicht schwarz gewesen, hätte man spießbürgerliche Verhältnisse konstatieren können (ihr selbst fällt später während des Wahlkampfes in Iowa auf: Das Interieur der Häuser älterer weißer Damen ähnelt frappierend dem ihres eigenen Elternhauses). Ihr Vater arbeitet bei den Stadtwerken, die Mutter verzichtet zugunsten der Kindererziehung auf einen eigenen Beruf, arbeitet erst später wieder als Sekretärin.

Viele rezente Probleme der USA sind in jener Zeit angelegt: Die Unfähigkeit aller staatlichen Stellen, für eine entsprechende Ausbildung der Kinder und Jugendlichen zu sorgen und damit wenigstens ansatzweise etwas wie Chancengleichheit herzustellen, ist vor allem anderen zu nennen. So wird im Buch für die Restauration der Klassenräume bei den Eltern gesammelt, diese helfen in ihrer Freizeit mit, die entsprechenden Umbauten vorzunehmen – und das wird als etwas Positives betrachtet (was es – für den Einzelfall – wohl auch ist), ohne auf die grundlegenden strukturellen Probleme einzugehen, die ein solches Engagement erst notwendig machen (die Vorstellung, am Wochenende das Klassenzimmer meiner Tochter zu streichen, mutet seltsam an, wäre auch juristisch problematisch: Für Ausbildung, Infrastruktur und Soziales ist (und muss) der Staat zuständig (sein), einfach weil ansonsten die apostrophierte Chancengleichheit noch nicht mal in Ansätzen gewahrt werden kann). Für viele US-Amerikaner ist hingegen schon eine für alle verpflichtende Gesundheitsversorgung gleichzusetzen mit einem kommunistischen Umsturzversuch.

Dieses Denken kommt mittelbar in der gesamten Lebensgeschichte Obamas zum Ausdruck: Die USA als ein Land, das den Tüchtigen die Möglichkeit eröffnet, es ganz nach oben zu schaffen (immer wieder weist sie auf das Paradigmatische ihres Lebenslaufes hin: Wenn ich es schaffen konnte (schwarz und weiblich), dann kann es auch euch gelingen). Aber das sind unzulässige Vereinfachungen und die Biographien der Obamas sind viel mehr die Ausnahme als die Regel: Man muss sehr viel Glück haben, ungeheuer belastbar und konsequent sein, um es in dieser Gesellschaft nach oben zu schaffen. Begabungen sind keineswegs immer mit Eigenschaften verbunden, die unter Druck und Anstrengung große Leistungen vollbringen, sie müssen gefördert und erkannt werden, man muss jene Nische bieten (zu bieten versuchen), in der man sich bestmöglich entfalten kann: Das ist keineswegs nur im Sinne des Einzelnen, sondern auch in dem des Staates. Wie seltsam das us-amerikanische Denken bezüglich Leistung und Strafe ist, zeigt sich am Strafvollzug: Nirgendwo sitzen mehr Menschen hinter Gittern und nirgendwo ist der finanzielle Aufwand größer. Dennoch würde eine Umschichtung dieser Mittel für Jugend- und Sozialprogramme nicht mehrheitsfähig sein, Fürsorge gilt in großen Teilen der Bevölkerung noch immer als eine unzulässige Einmischung des Staates in private Angelegenheiten.

Ein anderes Problem der USA ist ihre Rückwärtsgewandtheit: Sie waren das erste Land, das (mit Abstrichen) eine Demokratie genannt werden konnte und es gab eine Zeit, in der sich Freiheit (im Sinne von staatlich nicht eingeschränkter Freiheit), Mut, Leistungsbereitschaft, Rücksichtslosigkeit (den solche Eigenschaften sind mit den vorgeblich positiv konnotierten wie Mut eng verbunden) lohnten, in der sich Stärke und Brutalität auszahlten (es gab ja eine nicht unerhebliche Anzahl von Ureinwohnern zu massakrieren). All das wurde glorifiziert – genauso wie die politischen Institutionen. Weshalb es als Häresie betrachtet wird, an diesen altehrwürdigen (und häufig dummen, archaischen) Traditionen zu rütteln und ein „Mann“ immer noch sein Haus oder Grundstück mit der Waffe verteidigen darf, Wahlmänner den Präsidenten wählen und Bundesstaaten wie Wyoming mit 600 000 Einwohnern im Senat ebenso mit zwei Sitzen vertreten sind wie Kalifornien mit 40 Millionen.

Warum ich das im Zusammenhang mit diesem Buch erwähne? Weil die Autorin sich zwar aufgeschlossen gibt (und es im Vergleich zu vielen anderen US-Bürgern wohl auch ist), sie aber nirgends auch nur ansatzweise an all diesen Traditionen Kritik übt. Im Gegenteil, sie ist (positiv) beeindruckt von der Pracht des Weißen Hauses (stellt jedoch fest, dass es im Vergleich mit dem Buckingham-Palast zu einem bescheidenen Domizil wird), sie ist hingerissen von der Tatsache, dass ihr Mann mit der Hand auf der Lincoln-Bibel seinen Amtseid ablegt und findet zwar die Rolle einer First Lady als wandelnder Kleiderständer und Modepüppchen wenig anziehend, hat dann aber eine Beraterin, die einzig für ihr Outfit zuständig ist und mokiert sich gleichzeitig, dass so sehr auf dieses Äußere wertgelegt würde. Und wenn auch ihr Einsatz für Veteranen und deren Angehörige löblich sein mag, so fehlt jedwede Auseinandersetzung mit der fragwürdigen Rolle des us-amerikanischen Militärs in der Welt. Man schwärmt von Stolz, Tapferkeit und Vaterlandsliebe wie weiland im wilheminischen Deutschland und erzählt die Anekdote vom schwer verletzten Soldaten aus Texas, der sich aller Unbill zum Trotz aus seinem Krankenbett zu erheben versucht, um der Frau des Oberkommandierenden seine Ehre erweisen zu können.

All das macht das Buch aber auch lesenswert (weil vieles unbeabsichtigt zum Ausdruck gelangt): Die Schilderung der Umstände einer Jugend in einem Chikagoer Vorort und die Verklärung eines Lebensstils, der genau solchen Menschen ein Weiterkommen fast unmöglich macht. Die Erfolgsgeschichte als Beispiel ist ein Affront für Schwarze, Latinos, Frauen, die weniger Glück hatten, deren Ausgangsbedingungen schwieriger waren oder aber die einfach nicht die Kraft besaßen, all die Zurücksetzungen und Schwierigkeiten zu überwinden. Die USA entfernen sich immer weiter von einem modernen, liberalen Staatswesen, die Gesellschaft ist bigott, abergläubisch und huldigt einem Ideal, das aus dem 18. oder 19. Jahrhundert stammt. Dazu kommt der enorme Einfluss der Religion, der es noch für lange Zeit als gänzlich undenkbar erscheinen lässt, einen offen atheistischen Präsidenten zu wählen. Obama beschreibt mit einer fast peinlich anmutenden Selbstverständlichkeit, wie das Ehepaar ein Gebet vor dem Einschlafen spricht: Nicht solche Einfalt macht unwählbar, sondern ihr Gegenteil.* Aber es gelingt ein Sittenbild des typischen Amerikaners, ohne dass dies auch nur im geringsten beabsichtigt gewesen wäre. Und das macht das Buch authentisch, obschon ihre Intentionen andere gewesen sein dürften.


*) Man muss im 21. Jahrhundert der Überzeugung anhängen, dass der liebe Gott – nach Erschaffung von 100 Milliarden Galaxien mit ebensovielen Sternen – auf einem der noch zahlreicheren Planeten seinen Sohn in Gestalt eines höheren Säugetieres von anderen höheren Säugetieren ermorden lassen musste, damit alle später lebenden Säugetiere nach ihrem Tod Platz an der Tafel des Galaxienerschaffers nehmen können. Dass ein solcher Glaube Voraussetzung für das höchste Amt im Staate ist, sagt viel über das Land und seine Bewohner.


Michelle Obama: Becoming. Meine Geschichte. München: Goldmann 2018. (ebook)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert