Frances Trollopes Schicksal weist viele Parallelen auf zu dem Johanna Schopenhauers. Beiden schien ursprünglich das übliche Leben einer Frau im 19. Jahrhundert bestimmt: Geburt, Heirat, Kinder, Tod. Jeweilige Einträge im Kirchenregister inklusive – als einzige Spur ihres Erdenlebens. Beide erfüllten denn auch die ersten Teile in der vorgeschriebenen Reihenfolge (auch wenn Frances ein wenig älter war bei der Eheschließung als Johanna). Beiden wurde dann aber wohl auch die Ehe immer schwieriger auszuhalten, weil beide Ehemänner mit fortschreitendem Alter zusehends weniger liebenswürdig wurden. Bei beiden trat – direkt oder indirekt mit ihren Gatten verbunden – eines Tages die finanzielle Katastrophe auf den Plan: Sie verarmten, ohne dass die gemäß damaligem Brauchtum zuständigen Gatten etwas dagegen unternehmen konnten. An diesem Punkt brachen beide, Johanna wie Frances, aus dem den Frauen vorgeschriebenen Lebenslauf aus. Sie begannen selber Geld zu verdienen, indem sie als Autorinnen tätig wurden. Beiden wiederum war das Glück hold: Ihre Werke waren gefragt und sie gehörten plötzlich zu den bekanntesten Autorinnen ihrer Zeit und ihres Landes. Bei beiden war es dann aber auch so, dass der literarische Ruhm nach ihrem Tod rasch verblasste. Literarischen Nachruhm, der bis heute anhält, ernteten aber bei beiden ihre Söhne: Arthur im Falle Johannas, Anthony (mehr noch als der Älteste, Thomas) im Falle von Frances. (Ob oder wie weit am Verblassen des literarischen Nachruhms die im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert männlich dominierte Literaturkritik und -wissenschaft eine Mitschuld trägt, wäre wohl zu untersuchen. Immerhin war es lange so, dass Frauen das Verfassen von „guter“ Literatur nicht zugetraut wurde – und die tonangebenden Männer teilten Geschriebenes rücksichtslos in nur zwei Kategorien auf: Hochliteratur und triviale Literatur. Wo die Hochliteratur dann selbstverständlich Männerdomäne war, und die Trivialliteratur – niemanden zu interessieren hatte.)
Unter dem Titel Briefe aus der Kaiserstadt haben wir eine ungefähr auf die Hälfte des ursprünglichen Umfangs zusammen gedämpfte deutsche Fassung von Trollopes Vienna and the Austrians vor uns. Briefe sind es nur der Form nach; Trollope pflegt die Fiktion, jedes Kapitels ihres Reiseberichts (denn um einen solchen handelt es sich) sei ein Brief an jemand zu Hause in England. Als Anrede dieses Jemand verwendet sie einfach Dear Friend, es geht also nicht einmal dessen oder deren Geschlecht aus den Briefen hervor. Das ist auch nicht nötig; die angesprochene Person soll der Autorin nur Folie sein, deren englisches Selbstverständnis im Grunde genommen das ist, mit dem Frances Trollope selber auf Reisen war und vor dessen Hintergrund sie selber Land und Leute beurteilt.
Zu diesen Urteilen ist zu sagen, dass Trollope eine hartgesottene Tory war und ihr Urteil aus der Sicht einer englischen Dame von Adel abgibt. Dies, obwohl sie selber aus bürgerlichem, ja kleinbürgerlichem Milieu stammt, und sich hier Dinge und Wissen anmaßt, über die sie nicht verfügt. Frances reiste mit ihrem ältesten Sohn Thomas (im Text immer nur T.; auch die Verwandtschaftsbeziehung wird nie angesprochen), dessen Studienfreund B. (die Sigle wurde bis heute nicht aufgeschlossen) und einem Maler (Stiche nach seinen Skizzen wurden der englischen Erstausgabe hinzugefügt; die paar Beispiele, die ich in meiner Ausgabe vorfinde, zeigen keine überragende Begabung). Anthony, fünf Jahre jünger als Thomas, musste in England bleiben. So lange die Gruppe auf Reisen ist, macht sich Frances Trollopes eingeschränkte Sicht der Dinge wenig bemerkbar. Der Bericht fängt nämlich mit der Anreise an, genauer gesagt, in Paris. Von dort geht es nach Stuttgart, wo die Gruppe Gustav Schwab trifft. Der veranlasst sie, die ursprünglich geplante Route zu verlassen, und über Tübingen zu reisen, wo sie auch Uhland würden sprechen können. Der wollte oder konnte nicht Französisch oder Englisch mit seinem Besuch reden, während Frances es offenbar nicht für nötig gehalten hatte, für ihren Aufenthalt in Wien auch nur ein paar Wörter Deutsch zu lernen (dennoch erlaubt sie sich an anderer Stelle ein Urteil über eine Aufführung von Goethes Faust, obwohl sie das Stück schon zum Vorneherein für nicht aufführbar hält.) – und so hat man sich bei diesem Treffen offenbar mehr oder weniger gepflegt angeschwiegen. Augsburg, Innsbruck, Salzburg, und dann ein Schlenker nach München, schließlich von Regensburg auf der Donau nach Wien. Romantisch blieb es auf der Reise offenbar – jedenfalls, wenn man Trollopes Landschaftsbeschreibungen so liest.
In Wien gelingt der Autorin der Coup ihres Lebens. Anlässlich einer Einladung bei englischen Gesandten in Wien trifft sie Fürst Metternich und dessen Gattin. Der Fürst und die Bürgerliche finden Gefallen aneinander (rein platonisch, so weit sich beurteilen lässt). Aber dieses Treffen, bzw. der Fürst, eröffnen ihr Zugang zu Zirkeln, in die sie im Normalfall nie gelangt wäre. Vor allem Bälle bei den verschiedenen Diplomaten, an denen die gesamte Wiener Haute Volée teilnimmt, schildert sie mit Gusto. (Sie hält sich von Herbst 1837 bis Frühling 1839 in Wien auf, nimmt also die Faschings-Saison mit.) So sehr aber auch Trollope tut, als ob sie ‚dazu‘ gehört und sogar herablassend auf eine Schicht von Aristokraten zweiter Ordnung herabblickt (in ihrer Schilderung meist baronisierte Banquiers, die den Titel als Lohn für ihre unentbehrlichen Dienste beim ‚eigentlichen Adel‘ erhalten haben; was Trollope nicht schreibt (nicht weiß? für unwichtig hält?) ist, dass die meisten dieser Barone jüdischen Glaubens sind und deswegen geschnitten werden), so sehr verrät sie ihre tatsächliche Herkunft in der begeisterten Schilderung der reichen Kleidung von Damen wie Herren, des getragenen reichen Schmucks, in ihrer Begeisterung darüber, dass die Damen im Laufe eines Abends zwischen zwei Einladungen (denn pro Abend besucht ‚man‘ mehr als eine Veranstaltung!) sogar die Kleidung wechseln – von reich zu noch reicher.
Trollope ist in ihren Schilderungen immer absolut kaisertreu. In Wien regierte damals Ferdinand I., auch Ferdinand der Gütige genannt. (Oder, im Volksmund, „Gütinand der Fertige“.) Er galt zu seiner Zeit (und gilt zum Teil bis heute) als schwachsinnig, war aber wohl eher einfach nur ungeeignet für eine Führungsposition, da er in komplexeren Fällen nicht entscheiden konnte. Nach seiner „Abdankung“ (10 Jahre nach dem Besuch Trollopes – einer Abdankung, die formell keine war) konnte er ja seine eigenen, vom Herzog von Reichstadt ererbten Güter mit großem Erfolg selber verwalten. Womit wir – neben Ferdinands Schwäche – beim zweiten nicht kleinen Problem der Donaumonarchie sind, das Trollope ebenso elegant umschifft wie das von Ferdinands Schwäche: dem Herzog von Reichstadt. Als Sohn Bonapartes aus der Ehe mit der Habsburgerin Marie-Louise hervorgegangen, war er Napoléons einziger legitimer männlicher Nachkomme. Zum Teufel jagen konnte man ihn in Wien nicht; immerhin war er ja auch der Enkel Franz‘ II./I. Er war ein eigentlicher Pfahl im Fleisch der Habsburger – und der gesamten Wiener Gesellschaft. Was sich schon darin ausdrückte, dass noch 1837, also immerhin fünf Jahre nach seinem Tod, noch immer, und immer wieder, von ihm die Rede war. Wie überhaupt sich die konservative Gesellschaft Wiens offenbar dadurch auszeichnete, dass man weder Napoléon, noch seinen Sohn, der eine Zeitlang Napoléon II. war, vergessen konnte. Und dass man, wenn man sich seiner eigenen Größe versichern wollte, immer wieder auf – Maria Theresia zurück greifen musste.
In diesem, von ihr ganz sicher nicht beabsichtigten Sinn, ist Frances Trollopes Bericht von ihrem Aufenthalt in Wien noch heute lesenswert: als Bild einer Zeit, verfasst von jemand, der gerade genügend Einblick in die regierende Klasse hatte, um sie schildern zu können; zu wenig aber, um alle Nebenumstände völlig verschleiern zu können. Dafür verzeihe ich der Autorin sogar ihren übermäßigen Enthusiasmus für Mode oder Tafelfreuden (von denen sie dann doch wieder zu wenig versteht – sie hält durchwegs Champagner für das nec plus ultra in Sachen eleganter Getränke); ich verzeihe ihr, dass sie denkt mit der Lektüre von ein paar Romanen Walter Scotts eine hinreichende historische Ausbildung genossen zu haben; ich verzeihe ihr, dass sie Hammer-Purgstall als Dolmetscher bei einem popeligen griechisch-orthodoxen Abt missbraucht, den sie besucht; ich verzeihe ihr, dass sie viele Kunstschätze Wiens entweder nicht gesehen oder nicht zu schätzen gewusst hat; ich verzeihe ihr, dass sie in der Oper offenbar nur teure Stimmen (wie es sie für die Londoner Opernhäuser eingeführt wurden) für gute Stimmen hielt; ich verzeihe ihr, dass sie in ihrem angenommenen Standesdünkel berichtet, in der Kaiserlichen Bibliothek (deren Besuch sie im gleichen Brief beschreibt wie das Kaiserliche Porzellan!), wie sie dort also berichtet, von einem Grafen G. geführt worden zu sein, bei dem es sich wahrscheinlich um den bürgerlichen Orientalisten Anton Gévay handelte, denn der Leiter der Bibliothek war zwar Graf, hieß aber ganz anders. Ich verzeihe ihr die kitschige Schilderung der Weihnachtsfeier bei Metternichs. Ich verzeihe ihr, dass sie die eiserne Faust, mit der Metternich das politische Geschehen regulierte, nicht sah oder nicht schilderte. All das verzeihe ich ihr. Für sie war Wien und was sie dort sah und erlebte, offenbar eine Art Märchen, und Märchen müssen nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen … Für die Schilderungen der Metternich’schen Politik findet man andere Quellen. Trollope aber schildert die Gesellschaft und man spürt aus ihren Erzählungen, dass wir es bei der damaligen Wiener High Society mit einem fragilen Experiment zu tun haben – und es deren Mitglieder sehr wohl fühlten, wenn auch vielleicht sich nicht bewusst machten. Hätte Trollope dies geahnt, sie hätte wohl noch vorsichtiger formuliert.
PS. Die erste deutsche Übersetzung fand noch zu Trollopes Lebzeiten statt. Ihr Autor war Johann Sporschil, der sich in Wien um einiges besser auskannte als Trollope und das eine oder andere Missverständnis in Anmerkungen ausgeräumt hat. Meine Edition beruht auf dieser mit der englischen Erstausgabe verglichenen Übersetzung und ist – man frage mich nicht, wann? – wohl in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einer Reihe namens Bibliothek klassischer Reiseberichte von Dr. Georg A. Narciss herausgegeben worden. Zweifelsohne würden bibliografische Recherchen im Internet mehr Informationen dazu auswerfen. Mir fehlt im Moment leider die Zeit dazu.