Hans-Dieter Rutsch: Der Wanderer. Das Leben des Theodor Fontane

BiografInnen essen wahrlich hartes Brot. Zunächst müssen sie, um von ihrer Arbeit leben zu können, ein Thema (sprich: einen Lebenslauf) finden, der genügend Publikum anspricht. Wenn der oder die Biografierte in der Öffentlichkeit nahezu unbekannt ist, müssen sie dafür sorgen, dass ihr Buch durch andere Qualitäten genügend auffällt, damit die Literaturkritik es entsprechend rühmt und eventuell gar für preiswürdig erklärt. Ist der oder die Biografierte bekannt genug, dass schon durch den Namen für Interesse im Publikum gesorgt ist, plagen die BiografInnen andere Sorgen: Es wird in diesem Fall wahrscheinlich mehr als eine Biografie geben über diese Person – statt Monopol haben wir Konkurrenz. Wenn nun diese bereits bekannte Persönlichkeit einen runden oder gar einen richtig runden Geburts- oder Todestag zu „feiern“ hat (bzw. er für diese Person gefeiert wird, denn selber einen 200. Geburtstag feiern, kann dann doch niemand), ist zwar wahrscheinlich ein Interesse im Publikum an einer Biografie als solcher gegeben, aber es steht zu befürchten, dass auch andere BiografInnen sich auf diesen Zeitpunkt hin des Themas bzw. der Person annehmen werden – die Konkurrenz ist dann nicht nur historisch (so was kann man mit „neuen Erkenntnissen über …“ jederzeit ausschalten), sondern kontemporär. Was nun die einzelne Biografin, den einzelnen Biografen, vor das zusätzliche Problem stellt, ein Alleinstellungsmerkmal für die eigene Biografie zu finden und damit zu werben – was in der Sprache des Marketings „USP“ genannt wird, Unique Selling Proposition.

In dieser letzten Situation befand sich wohl Hans-Dieter Rutsch, als er für den Rowohlt-Verlag im Hinblick auf das große Fontane-Jahr von 2019 eine Biografie zu schreiben begann. Sie erschien zwar noch 2018, hatte aber ihren eigentlichen „impact“ erst im folgenden Jahr 2019, als der 200. Geburtstag Theodor Fontanes die literarischen Schlagzeilen beherrschte. Mir fehlte damals die Zeit, mich im grossen Stil um diesen Geburtstag zu kümmern; auch war mir das Hemd des ebenfalls seinen 200. Geburtstag feiernden Schweizer Autors Gottfried Keller näher als die Hose des Preußen Fontane. Das deutsche Feuilleton hat die Feiern und das Verfassen, Lesen und Kritisieren der Fontane-Beiträge aber auch ohne meine Beihilfe sehr gut zu Stande gebracht. Neulich aber habe ich beim Bestellen der Gewinnerin des Deutschen Buchpreises 2020 bei der Büchergilde Rutschs Biografie gesehen und als Beifang – weil ich schon in biografischen Gefilden wilderte – gleich mit bestellt.

Rutschs Problem war also offenbar: Was sollte er seiner Biografie als „USP“ beigeben? Er ist ja weit entfernt davon, der erste Fontane-Biograf zu sein; und das Jahr 2019 hat tatsächlich so einige neue Biografien zu diesem märkischen Autor zu Tage gefördert. Die Antwort ist, kurz zusammengefasst, folgende: Rutsch wehrt sich dagegen, dass Fontane als märkischer Autor, quasi als Heimatdichter Preußens, vereinnahmt wird – der Wanderungen durch die Mark Brandenburg zum Trotz. Er wehrt sich auch gegen das Bild von Fontane als dem Causeur und Flaneur, dem seine Texte sozusagen zugeflogen sind und verweist auf die harte und manchmal jahrelange Arbeit an ihnen, ein ständiges Überarbeiten auch von schon ins Reine geschriebenen Passagen – etwas, das nicht nur den Autor selber, sondern auch Frau und Tochter (die als Sekretärinnen und Beraterinnen amteten) an ihre Grenzen brachte. Rutsch verweist auf einen immer wieder am Rande eines Zusammenbruchs stehenden Fontane, der von Zweifeln an seiner Arbeit gequält wird. Er verweist darauf, dass erst der über 50 Jahre alte Mann vom Ertrag seiner Feder (nämlich als Theaterkritiker!) leben konnte. Er verweist darauf, dass bis dahin Fontane ein gehetzter und gejagter Mann schien, der auch seine Wohnungen häufig wechselte, der manchmal nicht wusste, wie er am nächsten Tag für sich und seine Familie auch nur Brot kaufen konnte – ein Wanderer. Und dennoch: Trotz aller Hinweise – der Wanderer Fontane bleibt abstrakt. (Dass Fontane konkret die „Wanderungen“ in der Mark Brandenburg größtenteils in einer Kutsche absolviert hat, ist ja allzu bekannt – dieser „Wanderer“ ist von Rutsch auch nicht gemeint.) Die Zeit von Fontanes „Wanderungen“ ist für Rutsch die Periode zwischen etwa 20 und 50. Dieser Zeitabschnitt aber wird in der Biografie immer nur gestreift: London, Schottland, Dänemark, Kopenhagen etc. sind nicht viel mehr als Stichwörter. Substantielles dazu erfahren wir wenig.

Rutschs biografisches Verfahren kreiert noch ein zusätzliches, generelles Problem, wenn sie aus Fontanes Kindheit und Jugend das Wesen des Erwachsenen ableiten will: Die Unruhe, die Rutsch für Fontane in der Theorie behauptet, wird in der Praxis des Texts überdeckt (um nicht zu sagen: überfahren) von der Unruhe der textlichen Zeitsprünge des Biografen. Rutschs Biografie fährt nämlich prinzipiell zweigleisig. Da ist die Erzählung von Fontanes Kindheit und Jugend, die als Generalbass den ganzen Text durchzieht. Von kindlichen Erlebnissen und Erfahrungen ausgehend, versucht Rutsch, in Abschweifungen von der Chronologie Wesenszüge des reifen Fontane zu erklären. Und das geht gründlich schief. Das muss schief gehen, weil es – man entschuldige meine Offenheit – zum einen ein Unding ist, einen längst Verstorbenen (der dazu noch in einer Gesellschaft lebte, in der vieles anders funktionierte als in unserer heutigen, auch und gerade dann, wenn man ihn – wie es Rutsch tut – zu einem Wegbereiter eben der heutigen stilisiert) – ein Unding ist es also einen solchen Autor psychologisch oder gar psychoanalytisch erklären oder erkennen zu wollen. Rutsch holt denn auch letzten Endes für den alten Fontane nur das heraus, was er selber ins Kind und in den Jugendlichen Fontane gesteckt hat. Es klingt banal und ist es eigentlich auch: Fontanes Frauengestalten (die zum Besten gehören, was in der Literatur weltweit überhaupt hervor gebracht worden ist) lassen sich nicht erklären aus Fontanes Verhältnis zu seiner (gemäß Rutsch depressiven) Mutter. Sie lassen sich schon gar nicht daraus herleiten. Zum andern geht Rutschs Verfahren nicht nur inhaltlich schief; es geht auch formal-textlich schief: Weil Rutsch immer wieder von kindlichen Erlebnissen abschweift in Taten und Texte des reifen, ja des alten Fontane, verliert zum Schluss die Leserschaft den Überblick darüber, wo in Fontanes Biografie wir nun genau stehen und warum. Es führt auch dazu, dass offenbar der Autor selber den Überblick verloren hat, weil er auch schon mal Aussagen zu Leben und Werk fast wörtlich wiederholt, ohne Neues hinzu zu fügen. An dieser Orientierungslosigkeit nehmen sogar die – wenigstens in akzeptabler Druckqualität – von Zeit zu Zeit eingestreuten Fotografien Teil. Bestenfalls verbildlichen sie etwas (z.B. Fontanes Geburtshaus), das auch ohne Bild im Text zur Genüge erklärt wird; schlimmstenfalls stehen sie auch schon mal ohne eigentlichen Bezug zum Text einfach da.

Ein Text also bestenfalls für die Fontane-KennerInnen und -LiebhaberInnen, die auch alles über ihren Leib- und Magen-Dichter gelesen haben möchten. Wer als Neuling an Fontane herantritt und nun Informationen zu dessen Leben und Werk sucht, ist mit diesem Buch schlecht bedient. Größere Fehler habe ich allerdings nicht gefunden – ich bin nun aber auch nicht ein Fontane-Spezialist. Am andern Ende des deutschen Sprachraums aufgewachsen, kann ich auch zum Thema „Fontane als Heimatdichter“ nichts beitragen. Summa summarum bereue ich zwar nicht, den Text gelesen zu haben; er hat mir einiges über Fontane wieder zu Bewusstsein gebracht. Insofern wurde das Minimalziel meiner Lektüre erreicht. Aber mehr erwartet hatte ich schon …

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