Wenn eine japanisch-stämmige Frau, die als kleines Kind mit den Eltern aus Japan nach Kanada umgezogen ist, um dort ein Produktion von Pilzen zu betreiben und zu bleiben, einen Roman schreibt über eine japanisch-stämmige Frau, die als Erwachsene ihre ebenfalls erwachsene Tochter und deren Mann begleitet, die aus Japan nach Kanada umgezogen sind und dort ein Produktion von Pilzen eröffnen, um davon zu leben – wenn wir also diese Ausgangssituation vor uns haben: Sprechen wir dann von kanadischer oder von japanischer Literatur? Das Buch wurde ursprünglich auf Englisch verfasst, wir finden darin aber viele japanische Einsprengel. Einzelne Wörter, Satzfetzen, ganze Sätze. Die wenigsten davon in japanischen Schriftzeichen, meist wird einfach Umschrift verwendet. Also gehört der Roman irgendwie in beide Literaturen, finde ich.
Hiromi Goto erzählt die Geschichte dreier Frauen, dreier Japanerinnen, die nun in Kanada leben. Da ist die Großmutter, Naoe, die sich noch gut an ihre Kindheit irgendwo in der japanischen Provinz erinnert, als älteste Tochter einer keineswegs armen Familie. Der Vater verliert im Suff (und im Spiel?) das ganze Land auf dem sich der Reichtum der Familie gründet. Hier bleibt eine Lücke in den Erinnerungen der Alten; die nächste wichtige Szene, die sie beschreibt, findet sie bereits verheiratet als Gattin eines japanischen Ingenieurs und Brückenbauers, der im japanisch besetzten China Brücken konstruiert – für das Wohl der unterentwickelten Chinesen, wie er meint; damit japanische Truppen schneller vorankommen bei ihren Einsätzen gegen die Einheimischen im Inneren des Landes, wie sich herausstellt und wie die Alte schon immer gewusst zu haben behauptet. Wir treffen sie am Anfang des Romans, wie sie in der Türe zum Treppenhaus sitzt, wo sie alle Gehenden und Kommenden im Blick behalten kann. Sie sitzt in einem alten unbequemen Stuhl und plappert den ganzen Tag auf Japanisch vor sich hin. Und erinnert sich.
Die Tochter, Keiko, ist mit ihrem Mann nach Kanada ausgewandert, da nach dem Krieg die ökonomische Situation in Japan alles andere als rosig war. Von ihr erfahren wir am wenigsten, da sie die Person ist, die sich auch selber ausblendet. Sprich: Sie versucht, so kanadisch, so weiß zu sein, wie nur möglich. In ihrem Haus wird nur Englisch gesprochen; ihre Mahlzeiten sind verkochtes oder verbranntes kanadisches Essen; selbstverständlich isst die Familie mit Messer und Gabel und auch die Möbel sind „weiß“. (Als sie aber beim Verschwinden ihrer Mutter schwer erkrankt, ist es der Tochter nur möglich, sie in ein aktives Leben zurückzurufen, indem sie sie japanisch kleidet und japanisches Essen herstellt.)
Die Tochter trägt zwei Namen. Für die Mutter heißt sie Muriel, für die Grossmutter aber Murasaki. Sie ist die andere Hauptperson des Roman. Mit ihrer Großmutter verbindet sie ein telepathisches Band, das auch dann noch funktioniert, als die etwa 90-jährige Dame von zu Hause ausrückt und sich auf einen Road-Trip begibt. Muriel-Murasaki wird am Ende des Romans ihrem Beispiel folgen und ebenfalls von zu Hause ausziehen.
Eingestreut in die Erzählungen der drei Frauen sind kurze Sequenzen, in denen die weibliche Person eines Liebespaars (offenbar identisch mit Murasaki) Geschichten und Märchen erzählt. Diese Erzählungen bilden den Hauptteil des Romans.
Formal also raffiniert und anspruchsvoll. Anders als bei vielen Erstlingen (denn um den Erstling von Hiromi Goto handelt es sich hier) übertreibt es die Autorin mit der Raffinesse und dem Anspruch aber nicht: Der Roman bleibt lesbar und interessant.
Inhaltlich spielen neben den innerfamiliären Spannungen zwischen den Frauen aus drei Generationen vor allem die Themen Migration, Sexismus und Rassismus eine Rolle. Auch hier trägt die Autorin keineswegs dick auf, deutet eher an. Es geht auch nicht um den öffentlichkeitswirksamen gewalttätigen Rassismus, wie wir ihn aus den Nachrichten kennen. Es ist der nicht einmal böse gemeinte Alltags-Rassismus, der sich zum Beispiel darin ausdrückt, dass Muriel-Murasaki Glückwunschkarten erhält, auf denen Karikaturen schlitzäugiger Menschen (so erzählt sie es selber) figurieren. Oder dass sie in einer Schulaufführung die Hauptrolle spielen dürfte – Alice im Wunderland – sofern sie bereit ist, ihre schwarzen Haare dafür blond zu färben. Die Mutter Keiko, immer bereit, sich anzupassen, stimmt sofort zu – die Tochter wird renitent und verzichtet auf die Rolle. Auch die Benachteiligung der Frauen – sei es in der früheren japanischen Gesellschaft, sei es in der gegenwärtigen kanadischen, wird, ganz beiläufig, immer wieder angesprochen. Beim Inhalt gilt ebenfalls, was ich oben von der Form gesagt habe: durchaus raffiniert und anspruchsvoll; und auch hier übertreibt die Autorin nicht – eine Seltenheit bei einem Erstling.
Einziger Wermutstropfen ist der Schluss des Romans. Hier schlägt die Geschichte dann wirklich allzu ostentativ ins Märchen um, wenn die junge Asiatin unterdessen zu einem geheimnisvollen und äußerst erfolgreichen Bullenreiter namens The Purple Mask geworden ist. Doch solche den Roman abschließenden Umschläge in eine übertrieben phantastische Welt unterlaufen auch bekannteren Namen – wie dem Literaturnobelpreisträger Mo Yan (zum Beispiel in Der Überdruss) oder Haruki Murakami (zum Beispiel in Mit Kafka am Strand) – und dort stört es sogar mehr, weil es länger ausgewalzt wird. Außerdem ist purple, bzw. lila ein mögliche Übersetzung von ‚Murasaki‘ – wobei aber im Chor der Pilze auch explizit auf Murasaki Shikubu verwiesen wird, die Autorin der Geschichte vom Prinzen Genji, die zumindest die Großmutter ganz sicher gekannt hat.
Trotz des etwas zweifelhaften Schlusses eine interessante und einfühlsame Geschichte, die gekonnt Familiengeschichte, Migrationsgeschichten, Sexismus und Rassismus ineinander mischt, ohne bei einem der Themen penetrant oder lächerlich zu werden.
Hiromi Goto: Chor der Pilze. Aus dem Englischen von Karen Gerwig. Bad Berka: cass verlag, 2020.
Mit besten Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar.