Julien Offray de La Mettrie war das Enfant terrible der französischen Aufklärung – zu konsequent und zu radikal selbst für seine Mit-Aufklärer. Natürlich gab es für den einen oder anderen Gedanken, den er – zum Beispiel in eben dem vorliegenden Werk L’homme machine – äusserte, Vorläufer; man findet hier einige Ideen, die er von Früheren übernommen hat. Er gibt das aber auch offen zu, legt nachgerade Wert darauf, dass seine Gedanken nicht Hirngespinste eines einzelnen sind. Weder der hier zu findende Materialismus noch der ebenfalls zu findende Atheismus sind also de La Mettries eigene Erfindung. Aber ihm ist zuzuschreiben, dass er die beiden Ansichten miteinander verband. Und dass er sich mit großer Vehemenz gegen anders lautende Ansichten wandte, oft gar mit beißendem Sarkasmus. (Freunde macht man sich so allerdings nicht.)
Sein Materialismus gründete in seinem Studium der Medizin (also seinen Kenntnissen in Anatomie und Physiologie), wo er nicht anders konnte, als festzustellen, dass da – nichts festzustellen war. Nämlich keine Seele, die von diesem sinnlich wahrnehmbaren Leib irgendwie zu unterscheiden war. Und etwas Nicht-Körperliches, das etwas Körperliches beeinflussen oder gar steuern könnte, widersprach jeder naturwissenschaftlicher Erfahrung. Zwar war de La Mettries Physik (wie überhaupt die Physik seiner Zeit) praktisch noch rein mechanisch, aber er war dennoch der Meinung, zum Beispiel die Gefühle eines Menschen oder seinen Willen in physiologischen Phänomenen begründen zu können. Im menschlichen Körper fand sich kein Platz für eine Seele.
Die Schwierigkeit des Texts liegt vor allem darin, dass de La Mettrie bald als Arzt, bald als Philosoph argumentiert. Sein Maschinenmensch ist nicht nur ein Resultat physiologischer Beobachtungen – er resultiert auch aus einer Weiterentwicklung der Cartesischen Philosophie, die das Tier als reine Maschine betrachtete. Und da der Physiologe wiederum keinen Unterschied zwischen Mensch und Tier feststellen konnte … Mutatis mutandis geht er gar so weit, zu postulieren, dass auch das Tier wohl Sprache lernen könnte, vielleicht gar reden lernen könnte – wenn nur auf dessen Seite der Wille und vor allem die Liebe zu seinem Herrchen vorhanden wäre.
Last but not least traute er der Wissenschaft zu, dass sie in der Lage sein würde, den Menschen irgendwann nachzubilden – was ihn (zumindest theoretisch und in einer noch sehr abstrakten Weise) auch in die Galerie der Ahnherren der Geschichte der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz einreiht.
Seinen Zeitgenossen ging das zu weit – vor allem auch, weil er sich nicht enthalten konnte, über Andersdenkende in seinen Werken, auch in diesem hier, Hohn und Spott auszugießen. Die Physikotheologen, die Deisten – sie alle waren seiner Meinung nach logischen Fehlschlüssen aufgesessen, wenn sie die Natur (zum Beispiel – das berühmteste Beispiel der Physikotheologen – die Gestaltung des Auges) als zielgerichtet bzw. als von einem Designer zielgerichtet entwickelt betrachteten, also durch Betrachtung der Natur Gott gefunden oder gar bewiesen zu haben glaubten. Er nennt nicht nur die Glaubensrichtungen beim Namen, sondern auch deren Vertreter: Leibniz oder Locke; er nennt vor allem aber auch noch lebende Zeitgenossen beim Namen und verspottet sie: Haller oder Voltaire. Einzig die alten Atomisten, Lukrez und Epikur, finden Gnade vor seinen Augen; und Spinoza gegenüber, den er als Atheisten betrachtet, bleibt er ambivalent.
Das Bild vom Menschen in der Natur ist natürlich dann auch nicht das rosig angehauchte, auf ein Paradies oder zumindest eine bessere Zukunft bezogene seiner gläubigen Mit-Aufklärer. Er spricht in L’homme machine gar einmal davon, dass der Mensch in diese Welt geworfen worden sei, und nimmt damit den Existenzialismus, den frühen Heidegger, vorweg. Im Übrigen hindert ihn sein Atheismus nicht daran, dem Menschen moralisch verantwortungsbewusstes Handeln zuzuordnen. Ein Kampf aller gegen alle bedeutete seiner Meinung nach das Ende der Spezies Mensch – um es in Darwins Worten auszudrücken.
Viel mehr, als was de La Mettrie über das Leib-Seele-Problem geschrieben hat, kann man auch heute nicht darüber schreiben, wenn man nicht in eben jene gewagten theologischen Konstruktionen abtauchen will, die er verurteilte. Zusammen mit Francis Bacon (den er übrigens auch lobend erwähnt) zählt de La Mettrie zum Ursprung der modernen Wissenschaft.
Julien Offray de La Mettrie: Die Maschine Mensch / L’homme machine. Übersetzt und herausgegeben von Claudia Becker. Hamburg: Felix Meiner, 2009. Sonderausgabe aus der Reihe »Philosophische Bibliothek« (Band 407).