Nikolaus Lenau: Faust

Nikolaus Franz Niembsch, Edler von Strehlenau, der sich als Autor „Nikolaus Lenau“ nannte, ist heute wohl größtenteils vergessen. Zu seiner Zeit war er ein sehr bekannter Autor. Einige seiner Gedichte wurden, zum Teil von namhaften Komponisten, vertont, und es mag sein, dass man diese Lieder noch kennt, ohne zu wissen, wer deren Text verfasst hat. (Auch aus Lenaus Faust wurden Teile komponiert bzw. regten Kompositionen an, namentlich von Liszt und Robert Schumann.)

Lenau war sich bewusst, dass er mit dem Abfassen eines Textes zu Faust unweigerlich in direkte Konkurrenz trat zu Goethe, dessen Faust II gerade erst erschienen war. Allerdings meinte er in einem Brief vom 27. November 1833:

Faust ist zwar von Goethe geschrieben, aber deshalb kein Monopol Goethes, von dem jeder andere ausgeschlossen wäre. Dieser Faust ist Gemeingut der Menschheit.

Damit hatte er zwar im Prinzip Recht (und Thomas Mann sollte es – allerdings über 100 Jahre später – auch beweisen), aber, was er nicht sah, war, dass er wohl zeitlich viel zu nahe an Goethe war, um sich aus dessen Schatten lösen zu können. Und dass dasselbe auch für sein Publikum galt, das ihn noch lange – im Guten wie im Bösen – mit Goethe verglich.

Lenau nannte seinen Faust im Untertitel Ein Gedicht. Das ist insofern korrekt, als der ganze Text in Versen geschrieben ist, und erzählende, aber auch versifizierte Passagen abwechseln mit dramatisierten, in Versen gehaltenen. Wir haben also eine Mischform von Drama und Epos vor uns. In Bezug auf die literarische Gattung unterscheidet sich Lenau denn auch von Goethe, in Bezug auf die Verse hingegen kaum. Lenau war durch und durch Lyriker und hatte sich Goethes Verse derart anverwandelt, dass man über weite Teile seines Faust den alten Mann aus Weimar zu hören meint.

Vom Charakter her ist Lenaus Faust allerdings einzigartig. Und auch das im Guten wie im Bösen. Auch dieser Faust hier sucht zu Beginn die Wahrheit, wie so viele „Fäuste“ in der Literaturgeschichte. Wir finden ihn, nach einer Art Prolog Der Morgengang, wo er auf einem hohen Berg sinniert und dabei beinahe verunglückt, im anatomischen Theater an einer Leiche, zusammen mit seinem Famulus Wagner. Doch während Wagner sich erfreut an und sich begnügt mit dem Auffinden von physisch-physikalischen Verbindungen einzelner Organe, sucht Faust mehr (oder sagen wir, anderes):

Mein Freund das plumpe Messer tappt vergebens Verlaßnen Spuren nach des flücht’gen Lebens.

Verse 73/74

Faust ist Frankenstein auf der Suche nach dem Funken, der das Leben generiert. (Die Verbindung zwischen dem österreichischen Romantiker Lenau und der englischen Romantikerin Shelley wird wohl in Lord Byrons Manfred zu suchen sein.) Doch wo Frankenstein, und wo auch frühere Faust-Gestalten noch lange auf der Suche nach der Wahrheit weiterfuhren (bis sie dann irgendwann entweder zu fahrenden Zauberkünstlern wurden, sich sterblich in eine Frau verliebten oder auch gleich alle Frauen in die Kiste schleppten), wird Lenaus Faust von dieser Suche rasch abgelenkt. Er sucht, er weiß nicht was, hat auch Frauen (in die er sich zum Teil verliebt), aber kein wirkliches Ziel. Er tut nicht wirklich etwas, aber er tut auch nicht nichts. Er stellt keine zerrissene Gestalt vor, ist aber auch nicht ganz. Er beklagt, dass sich die Natur von ihm abgewandt habe, will aber gleichzeitig völlig über sie herrschen. Vor allem ist er plötzlich aufbrausend und larmoyant.

Ich kann meine Kritik an dieser Faust-Gestalt nicht besser ausdrücken, als es Ludwig Börne in einer Rezension getan hat:

Nach einer unpassenden Einleitung, worin Faust mit einem verflognen Schmetterling, d. h. der Kölner Dom mit einer abgebrochnen Pfeife, verglichen wird, beginnen jene alten Klagen über Verzweiflung. Warum ist Faust in Verzweiflung? Warum dieser neue Faust? Wer ist dieser Faust? Was will er überhaupt? Was hat er? Auch Lenaus Faust leidet an Zweifeln. Pfui, du kleiner Mann, der du nur ein verflogener Schmetterling bist, jener alte Doktor im Schlafrock, was miaust du uns deine trivialen Zweifel zu? Wie kann man jene alten Goetheschen Zweifel so naiv wieder aufwärmen, und eine alte wohl begründete Seelenstimmung zum Lirumlarum herabsetzen? Mir scheint, der Lenausche Faust ist nur deshalb verzweifelt, nicht, weil er nichts weiß, sondern weil er nichts gelernt hat.

zitiert nach dem Anhang meiner Ausgabe*), S. 152

Börne mochte Goethes Faust nicht; aber er mochte auch Lenaus Faust nicht. Auf mich wirkt Lenaus Figur wie ein Exempel jener psychischen Krankheit, die die Alten „Melancholie“ nannten, die in meiner Jugend „manisch-depressiv“ hieß und heute, glaube ich, „bipolare Störung“ genannt wird.

In einer Schlüsselszene trifft Faust in einer Schenke auf einen Matrosen namens Görg. Der scheint ihm auf den ersten Blick ein Seelenverwandter zu sein, einer, der ebenfalls Gott leugnet und die Natur als einzige Wahrheit anerkennt. Doch Lenaus Faust muss erkennen, dass diesem Görg die metaphysischen Zweifel abgehen, die ihn, den Doktor, plagen. Dieser Görg, im Kreise seiner Kameraden geschätzt und geachtet, sucht nicht nach Höherem. Faust (und die meisten Rezensenten der Zeit!) sieht darin einen Fehler Görgs. Er überlegt sich nicht, ob eventuell nicht gerade dieser Görg einen Schritt weiter ist, wohl schon immer einen Schritt weiter war in seiner uneingeschränkten Anerkennung der Tatsachen als eben solche. Zum Schluss, in der Stimmung von „Das Leben ist Traum, und ich stoße mir nun im Traum ein geträumtes Messer in mein geträumtes Herz“, begeht Lenaus Faust konsequenterweise Selbstmord. Natürlich kann, wer will, in Fausts Leben, erzählt von Lenau, eine Auseinandersetzung mit verschiedenen mystisch-metaphysischen Traditionen und Positionen wiederfinden, die Faust im Laufe des Textes einnimmt. Lenau, wenn ich das richtig sehe, wollte genau dies ja auch hineinlegen. Es gibt Schlimmeres als Lenaus Faust, aber einen Höhepunkt der deutschen Literatur haben wir hier nicht vor uns.

Und der Teufel? Immerhin habe ich dieses Werk ja vor allem um des Teufels willen gelesen! Zunächst: Er heißt auch bei Lenau Mephistopheles – jedenfalls offiziell, in vertrauten Briefen an Freunden nennt ihn der Autor auch schon mal Mephistl, ja Luder. Er kennt – außer ganz am Ende, wo er eine solche für den toten Faust anklingen lässt – keine Hölle. Er kommt auch ungefragt zu Faust, muss nicht beschworen werden und hat es zum Schluss auch nicht nötig, Faust umzubringen, um an seine Seele zu kommen. Er kennt offenbar keinen übergeordneten Gott und scheint – so weit er überhaupt einen Gott anerkennt – eher auf gleichberechtigter Stufe mit ihm zu agieren. Er ist der pure Materialist, in dem Sinne, dass er nur die Materie kennt und anerkennt. (Deshalb auch Spinoza und vor allem Lukrez auch sehr schätzt.)

Fazit: Der Teufel ist in Lenaus Text sicher die interessantere Gestalt als Faust, kommt aber zu kurz. Vor allem aber leiden der Teufel sowohl als Faust an der Krankheit ihrer Zeit, nämlich, Materialismus und Atheismus als moralische Übel zu betrachten. Wohl, weil Lenau selber nicht anders konnte, als solche Haltungen als Übel anzusehen.


*) Nikolaus Lenau: Faust. Ein Gedicht. Mit Dokumenten zur Entstehung und Wirkung herausgegeben von Hartmut Steinecke. Stuttgart: Reclam, 11971. Vor mir liegt die Bibliographisch ergänzte Ausgabe 1997 im Druck von 2009. (= RUB 1524)

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