Albee schrieb sein Drama Wer hat Angst vor Virginia Woolf? zu Beginn der 1960er. Dies ist der deutsche Titel des Stücks des mehrfach preisgekrönten US-amerikanischen Dramatikers und Drehbuchautoren Edward Franklin Albee, das am berühmtesten wurde. Viel zur Berühmtheit des Stücks hat wohl die Verfilmung beigetragen, bzw. die beiden Hollywood-Stars, die die Hauptrollen spielten: Liz Taylor und Robert Burton. Die beiden hatten sich drei Mal geheiratet und ihre Rosenkriege waren legendär. Man hoffte in den Studios, dass deren exzentrischer Beziehungsstatus auch den Film ‚pushen‘ würde, und man wurde nicht enttäuscht. (Im Übrigen ist der Film, nach allem was ich weiß, sogar eine recht genaue Umsetzung des Dramas – Albee und sein Stück haben also wohl auch einigen Anteil am Ruhm des Films.) Albee hat neben Wer hat Angst vor Virginia Woolf? weitere Dramen verfasst; er gilt als einer besten Vertreter des absurden Dramas aus den USA, und man fand oder findet das eine oder andere seiner übrigen Stücke noch zuweilen in der einen oder anderen Anthologie absurder Dramen – vor allem im englischen Sprachraum.
Albees Wurzeln im Absurden merkt man auch dem vorliegenden Stück an. Den Inhalt will ich hier nicht zusammenfassen; Wikipedia hat das bestens für uns erledigt. Die Frage, die ich mir stelle, ist vielmehr: Hat dieses Stück, das demnächst 60 Jahre alt wird, gut oder auch nur anständig gealtert? Haben wir hier Weltliteratur, oder zumindest potenzielle Weltliteratur vor uns? Kann die mit verbalem Sado-Masochismus aufgeladene Beziehung zwischen der Mittfünfzigerin Martha und ihrem jüngeren Mann George, einem Endvierziger, heute noch Anspruch auf Interesse beim Publikum beantragen? Eine offenbar dysfunktionale Beziehung zwischen einem in seiner Karriere gescheiterten Professor an einem Provinz-College und seiner Frau, die auch die Tochter des Präsidenten und Gründers eben dieses College ist? (Abgesehen davon, dass schon dieser Teil des Settings – ein US-amerikanisches College – alles andere als Weltgültigkeit beanspruchen kann?) Eine Beziehung, die sich aber – und das ist die eine großartige Wendung des Stücks – als keineswegs so dysfunktional entpuppt, wie sie zunächst wirkt, indem die darin gespielten Rollen von beiden akzeptiert und bewusst angenommen sind. Eine Beziehung, die gegen außen aus ständigen Streitereien besteht, die am liebsten vor Publikum ausgetragen werden? Einem kleinen Publikum, wohl gemerkt – nämlich genau einem anderen Pärchen. Auseinandersetzungen, in die man dieses andere Pärchen schamlos hinein zieht und es seinerseits dazu zwingt, seine Streitereien in dieser Öffentlichkeit auszutragen? Das Ganze unter Einfluss von viel, von sehr viel, gebranntem Alkohol? Vieles, vor allem in der Dialogführung, ist zweifellos zeitbedingt, stammt aus der Zeit der 1950er und 1960er, als das absurde Drama das nec plus ultra dramatischer Kunst darstellte.
So weit könnte man das Stück noch akzeptieren. Was es meiner Meinung nach fürs 21. Jahrhundert inakzeptabel macht, ist die hinter allem stehende Küchenpsychologie des Autors. Dass in den 1950ern der Mann Karriere macht und die Frau den Haushalt besorgt (was immer das im Detail bedeuten mag), ist hier nur der Anfang des Übels. Aber es ist für alle Betroffenen selbstverständlich und wird von allen Figuren akzeptiert, dass der gut-kleinbürgerliche Wunsch nach Kindersegen die letzendliche Quelle der Querelen ist: Martha und George, die gern ein Kind gehabt hätten, keines kriegen konnten – so, dass Martha auf den Ausweg verfallen ist, sich einen Sohn zu imaginieren, der am Folgetag der Ereignisse des Stücks nach Hause kommen und seinen 21. Geburtstag feiern sollte. 21 Jahre lang hätschelten und pflegten die beiden ihren imaginären Sohn, und niemand erfuhr je von ihm. Natürlich stritten sie auch über ihn. Nun aber hat Martha gegenüber Honey, dem weiblichen Teil ihres Gastpaars in dieser Nacht, geplaudert. George bleibt keine andere Wahl, als den imaginären Sohn eines imaginären Todes sterben zu lassen. Und siehe da: Dies scheint der Ausweg aus der verfahrenen Situation ihrer Beziehung zu sein, die Möglichkeit zu einem Neuanfang zu eröffnen. Auf der anderen Seite haben wir die schon genannte Honey, Mitte 20, mit ihrem unwesentlich älteren Mann Nick, einem aufstrebenden Biologie-Professor, der neu ans College von Marthas Vater geholt wurde. Auch bei diesem Paar finden wir einen Kinderwunsch, der unerfüllt bleibt. Es stellt sich im Lauf des Abends aber heraus, dass der Kinderwunsch einseitig auf Seiten Nicks war; Honey hat panische Angst vor den Schmerzen und eventuellen Komplikationen einer Geburt. Doch auch hier wirken die Ereignisse der Nacht kathartisch. (Aristoteles lässt grüßen – aber in den 1960ern gab es tatsächlich eine psychologische Theorie, die die Meinung vertrat, dass ein Austrage negativer oder aggressiver Emotionen – zum Beispiel, indem man mit einem Sandsack boxt – diese lindern oder zum Verschwinden bringen konnte.) Auch bei Honey und Nick also ändert diese Nacht den Stand der Dinge: Honey hat ihre Angst am frühen Morgen offenbar überwunden und ist nun bereit, Kinder zu empfangen und zu gebären.
Ein Happy Ending, basierend auf einer recht kruden psychologischen Theorie, für ein Problem, das kleinbürgerlicher nicht sein könnte – und das ein Kleinbürgertum betrifft, das so nicht mehr existiert, wohl auch nur für kurze Zeit und in einer geografisch eingeschränkten Region existierte: Das sind schlechte Voraussetzungen für Weltliteratur, und ich fürchte, Wer hat Angst vor Virginia Woolf? wird zusehends in Vergessenheit geraten. Meiner Meinung nach auch zu Recht.
Man kann nun argumentieren, dass ich die wirklich zynische Wendung des Autors nicht bemerkt habe, der dieses US-amerikanische Kleinbürgertum und seine Küchenpsychologie ins Zentrum eines ganzen Stücks stellt und sich so heimlich lustig macht über sein Publikum – das zu einem großen Teil wohl aus Akademikern und College-Professoren bestand. Mag sein. Aber eine Ironie, die so gut versteckt ist, dass keiner sie merkt, ist auch keine mehr. Ironisch ist höchstens, dass Albee, bekennender Homosexueller zu einer Zeit, als das noch in vielen Ländern strafbar war, dass Albee also als Homosexueller ein derart kleinbürgerlich-heterosexuell-idyllisches Lebensziel seiner Figuren präsentiert und offenbar gut heißt. Nein, das ist nicht ironisch. Das ist absurd.