Joaquim Maria Machado de Assis: Die nachträglichen Memoiren des Bras Cubas

Nachträglich meint hier ’nach dem Tod‘, wie man es ja dem brasilianischen Originaltitel (Memórias Póstumas de Brás Cubas) entnehmen kann, wo das Wort ‚postum‘ steht. (Es gibt m.W. auch eine deutsche Übersetzung, die das mit genau diesem Begriff überträgt.) Um genau zu sein, sind diese Memoiren nicht nur nach dem Tod des Verfassers veröffentlicht, sondern von ihm sogar erst nach dem eigenen Tod geschrieben worden. Das bringt den Verfasser der Memoiren, Brás Cubas, in die komfortable Situation, tatsächlich keine Rücksichten nehmen zu müssen (was weder Chateaubriand noch Mark Twain wirklich geglückt ist, auch wenn beide ihre Memoiren mit dem Blick verfassten, dass sie erst nach dem eigenen Tod veröffentlicht würden, es ihnen also egal sein konnte, wenn sie noch Lebende beleidigt hätten – was natürlich kein Mensch zu Stande bringt, auch nicht Chateaubriand oder Twain). Das bringt ihn in die komfortable Situation, vom Tagesgeschehen und den damit verbundenen Emotionen losgelöst zu sein – der Tote kennt ja keine Zeit mehr, schreibt er einmal, und ob nun diese oder jene politische Situation in seinem Land herrscht, spielt sub specie aeternitatis auch keine Rolle mehr. Es bringt Brás Cubas vor allem in die komfortable Situation, auch sich selber und seine Handlungen mit der gehörigen Portion Zynismus zu betrachten und beschreiben – Zynismus hier stark im Sinne der alten griechischen Kyniker, die menschliches Handeln als so oder so ohne Sinnhaftigkeit begriffen.

Und so beschreibt nun dieser Brás Cubas sein Leben, von seinem Tod bis zu seiner Geburt und wieder zu seinem Tod. (Wie er genau schreibt, wird nicht erklärt; aber in einem Kapitel kommt Brás Cubas einmal darauf zu sprechen, dass er weder einen Mund noch hat zu reden, noch Augen zu sehen – ich schließe daraus, dass er wohl auch keine Arme und Hände mehr haben wird zu schreiben.) Dieser Brás Cubas ist der einzige Sohn eines Vaters aus gut situierter bürgerlicher Familie in Rio de Janeiro. Er studiert zwar die Rechte, kann es sich aber offenbar leisten, keiner geregelten Arbeit nachzugehen. Der Vater wünscht von ihm viele Kinder aus einer Heirat mit der Tochter eines betuchten und einflussreichen Mannes, und damit verbunden eine politische Karriere. Der Sohn unternimmt zaghafte Versuche in diese Richtung, schafft es aber erst spät in seinem Leben zu einem Abgeordneten-Mandat – zu spät, um noch politische Karriere (z.B. als Minister) machen zu können. Auch aus dem Heiraten wird bis zu seinem Tod nie etwas, auch Kinder zeugt er keine, nachdem seine Geliebte zwar – wie er denkt: von ihm – schwanger wurde, aber das Kind verlor. Selbst seine Geburtsstadt Rio de Janeiro verlässt er nur einmal, als junger Mann und für eine relativ kurze Zeit, um sein Studium der Rechte in Coimbra (Portugal) abzuschließen. (Dahin schickte ihn der Vater, da der Sohn anfing, immense Summen Geldes einer … sagen wir: leichtfertigen … jungen Frau nachzuwerfen und sein Erbe im Voraus zu vergeuden. Der Vater sollte Recht behalten: Brás Cubas vergaß die Frau praktisch schon bei der Überfahrt nach Portugal.) Nach menschlichem Standpunkt führte der Brasilianer also ein vergeudetes und langweiliges Leben. (Erst ganz zum Schluss seiner Erzählung, als er schon sein ganzes Leben rekapituliert hat, wird ihm klar werden, dass er genau deswegen einen höheren Plan erfüllt hat: Er hat das Leben nicht weitergegeben und damit die Kette unglücklicher Schicksale zerrissen; was heißt, dass er die Welt etwas glücklicher gemacht hat, indem er ein paar unglückliche Wesen weniger in diese gestellt hat.)

„Ein ereignisloses Leben?“, wird sich vielleicht nun der eine oder die andere denken, „Was soll dann an diesem Roman interessant sein?“ Vielleicht hat dieser eine bzw. diese andere dann auch noch gehört oder gelesen, dass Joaquim Maria Machado de Assis der große Klassiker der brasilianischen Literatur ist, dass er die brasilianische Literatur überhaupt erst in die Moderne überführt hat, nachdem sie vorher vorwiegend aus provinzieller Widmungs- und Einschmeichel-Literatur bestanden hatte. Tatsächlich haben wir nicht trotz, sondern wegen der Bedeutungslosigkeit des Lebens dieses Herrn Brás Cubas Weltliteratur vor uns. Geschult an Laurence Sterne stellt uns Machado mit dem Brás Cubas einen weiteren Schelm vor, der sein Leben erzählt – so erzählt, dass eben nicht dieses Leben als solches, sondern die Form der Erzählung zum Ereignis wird. Ähnlich wie Sterne spielt Machado mit und in der Form seines Erzählens. Auch er lässt den Ich-Erzähler sein Leben nicht mit seiner Geburt anfangen, allerdings auch nicht mit seiner Zeugung, wie es Sterne mit Tristram Shandy tat, sondern Brás Cubas erzählt als erstes von seinem Sterben, geht dann über zu seiner Geburt und erzählt dann einigermaßen linear. (Auch wenn er, hat man als Leser das Gefühl, immer dann aussetzt und ein paar Jahre überspringt, wenn es interessant werden könnte.) Cubas-Machado spielt auch mit der rein äußerlichen Form des Schreibens. Da besteht ein ganzes Kapitel aus einer Unterhaltung zwischen Cubas und seiner Geliebten, aber außer den beiden Namen, die wie in einem Drama angeordnet sind, besteht das ganze Kapitel (und damit der ganze Dialog!) nur aus Gedankenstrichen, Frage- und Ausrufezeichen. Oder Cubas-Machado sagt mitten in einem Kapitel, wem dies oder jenes nun nicht ganz klar sei, solle doch Kapitel XXVIII noch einmal lesen – wir befinden uns aber gerade in diesem Kapitel. Ein anderer Scherz des Schreibenden ist es, am Anfang eines Kapitels zu schreiben, dass der Inhalt des nun folgenden Kapitels zwischen den ersten und den zweiten Satz des vorher gegangenen Kapitels gehöre. Diese und weitere Scherze sind so gut gemacht, dass der Gedanke an Epigonalität in keinem Moment aufkommt.

Eine absolute Leseempfehlung also.


Joaquim Maria Machado de Assis: Die nachträglichen Memoiren des Bras Cubas. Aus dem Portugiesischen übersetzt von Wolfgang Kayser. Nachwort von Susan Sontag. Zürich: Manesse, 2004. [Aus der Zeit also noch, als die Manesse Bibliothek der Weltliteratur in eleganter Ausstattung daher kam, was Schutzumschläge, Einband oder verwendetes Papier angeht.]

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