Platon: Der Staat

Über die genaue Reihenfolge der Entstehung von Platons Dialogen wissen wir nichts Genaues. Wir unterscheiden sie deshalb üblicherweise auf Grund von spezifischen Form- und Inhaltsmerkmalen und bilden eine frühe, eine mittlere und eine späte Gruppe. Der Staat wird zur mittleren Gruppe gezählt, weist aber noch einige Merkmale der frühen Dialoge auf. Meiner Meinung nach ist er (auch, aber nicht nur wegen dieses seines Zwitterwesens) nicht geglückt – jedenfalls stellt er nicht eines der besseren Werke Platons dar. Die Philosophie- und Rezeptionsgeschichte hat sich allerdings nachgerade gestürzt auf Πολιτεία („Politeia“ = Der Staat; auf Latein Res publica, weshalb er im Deutschen auch als „Die Republik“ existiert).

Betrachten wir uns den Dialog genauer. Er besteht aus 10 Büchern – eine Einteilung, die aber wohl erst geraume Zeit nach Platons Tod eingeführt worden sein muss, und die inhaltlich keine Begründung hat. Wir haben nach dem einführenden ersten Buch einen inhaltlich zusammen gehörenden Block in den Büchern II bis IV, dann wieder V bis VII, eine Art Zusammenfassung oder Nutzanwendung des bisher Gehörten in den Büchern VIII und IX, dann zum Abschluss einen Ausflug in die Seelenlehre im abschließenden Buch X.

Das erste Buch ist vom übrigen Dialog nur schon deshalb gesondert, weil Platon hier noch die in den Frühdialogen übliche Gesprächsform verwendet: Es wird eine These aufgestellt oder eine Idee oder ein Wunsch diskutiert in Gegenwart des Sokrates; dieser greift in das Gespräch ein und weist seinem Gesprächspartner nach, dass er eigentlich gar nicht weiß, wovon er spricht. Anders ist in Buch I einzig, dass Sokrates der Erzähler ist, während die übrigen Frühdialoge ihn in der dritten Person nennen.

Thema von Buch I ist die Gerechtigkeit, und das ganze Buch ist – wie in den Frühdialogen üblich – in einen Rahmen eingebettet. Hier sind es die gerade stattfindenden Feiern zu Ehren der Göttin Bendis; Sokrates hat der Göttin geopfert und ist in Begleitung des Glaukon auf dem Weg nach Hause. Sie treffen aber auf eine Gruppe von Bekannten und Freunden (darunter Glaukons Bruder Adeimantos), die ihnen schmackhaft machen, noch im Piräus, wo die Feierlichkeiten stattfinden, zu verharren, weil in der Nacht noch ein Pferderennen mit Fackeln durchgeführt werden soll. Man begibt sich ins Haus des einen Anwesenden, Polemarchos, wo schon weitere Männer versammelt sind. Dieses ganze, sehr detailliert ausgearbeitete Setting wird in den späteren Büchern keinerlei Rolle mehr spielen – ja, von den anwesenden und namentlich genannten Männern sind nur im ersten Buch ein paar auch wirklich Dialogpartner, in den restlichen sind es – von ein paar belanglosen Zwischenbemerkungen abgesehen, die wirken, als hätte sich Platon daran erinnert, dass da mal viele Dialogpartner vorhanden waren – sind es also nur die beiden gerade erwähnten Brüder Glaukon und Adeimantos, die mit Sokrates diskutieren. Das ganze erste Buch wirkt, wie wenn es viel früher geschrieben, aber nie separat veröffentlicht und nun in einen größeren Text eingearbeitet worden wäre. (Und größer ist Der Staat: Sein Umfang übertrifft den der frühen Dialoge um ein Mehrfaches.)

„Gerechtigkeit“ bleibt das Thema der übrigen neun Bücher, aber um sie definieren bzw. als sittliches Gut (Tugend) festhalten zu können, unternimmt Sokrates einen riesigen Umweg. Er weicht von seiner bis dahin üblichen Verfahrensweise ab und gibt selber positive Definitionen. Von der Gerechtigkeit als Tugend eines Individuums geht er ins Große, weil, so sagt er, im Großen besser demonstriert werden könne, was dann auch fürs Kleine gelte. Statt des Menschen also der Staat (was, notabene, bei Platon immer den Stadtstaat des antiken Griechenland meint).

Die real existierenden Staaten allerdings sind es nicht, die er bespricht. Er baut im Dialog mit Glaukon und Adeimantes einen fiktiven Staat auf, einen Idealstaat. Schon rasch stellt sich heraus (jedenfalls so, wie Sokrates das Gespräch leitet), dass ein Idealstaat aus drei Bevölkerungsschichten gebildet ist: den Handwerkern (also: der arbeitenden Bevölkerung), den Wächtern (die gegen außen wie gegen innen für Ruhe und Ordnung sorgen, dafür nichts besitzen dürfen und vom Rest der Bevölkerung ernährt werden) und zuletzt, als Führer des Staatswesens, der König oder die Könige; aus dem Stand der Wächter herauswachsend sind sie zugleich auch Philosophen. (Ich vermute, dass dieser Punkt es ist, der – zumindest mit – dazu geführt hat, dass Platons Text in der Philosophie als universitärer Disziplin noch immer diskutiert wird. So eine Einschätzung schmeichelt dem Philosophen-Ego.) Dies und wohl auch der bewusste Verzicht auf die Institution der Ehe – jede sollte mit jedem schlafen können und die Kinder sollten gemeinsam und getrennt von ihren ErzeugerInnen aufwachsen – ist es, was in den Köpfen der Menschen haften bleibt. Dann ist da die Verdammung der Poesie, weil zum Beispiel (der ansonsten immer wieder zitierte!) Homer weinende und trauernde Helden zeigt, was – so glauben die drei Gesprächspartner – zu einer Verweichlichung der Wächter führen würde. Schon eher geht vergessen, dass Platon seine Philosophen primär in Mathematik und Astronomie ausgebildet sehen wollte – und in der Dialektik als der Kunst, ein Gespräch zu führen.

(Übrigens wird obige, ein wenig hanebüchene Begründung, warum die Kunst im Idealstaat nichts verloren habe, im X. Buch durch eine metaphysische abgelöst: Es gibt ja, so behauptet Sokrates dann dort, nicht nur den konkreten Stuhl, auf dem man sitzt und den der Tischler gefertigt hat. Es gibt auch eine Idee des Stuhls, nach der der Tischler seinen konkreten Stuhl geformt hat. Diese Idee des Stuhls aber ist die einzig Realität (oder: Wahrheit), die Sokrates anerkennt. Wenn aber schon der Stuhl des Tischlers eine Nachbildung der Realität und nicht Realität ist – was ist dann von den Künsten zu halten, die ihrerseits die Nachbildung nachbilden und zum Beispiel das Gemälde eines (konkreten) Stuhls liefern? Auch die Gemeinsamkeit der Frauen und Männer wird zum Schluss relativiert: Es schlafen nicht einfach zwei miteinander, die gerade Lust haben. Beischlaf dient der Zeugung von Kindern – nach einem genau definierten Zuchtprogramm. Ein wichtiger Teil dieser Definition machen Berechnungen aus, denen man von weitem ansieht, dass sie nicht rational bestimmt sind, sondern in der Zahlenmystik der Pythagoreer gründen. Hier weist Der Staat sogar voraus auf Platons Alterswerk, wo die Zahlenmystik der Pythagoreer einen immer größeren Raum einnehmen wird. Aus dem Munde des Rationalisten Sokrates, der wusste, dass er nichts wusste, wirken sie allerdings seltsam.)

Zum Schluss, nach dem Idealstaat, besprechen die Drei die real existierenden Staaten – oder jedenfalls eine Einteilung der Staatsformen. Damit ist Platons Staatsphilosophie für dieses Mal beendet und er kehrt zum Ausgangspunkt zurück – der Gerechtigkeit als menschliche Tugend. Denn, so behauptet Sokrates, wie im Idealstaat drei verschiedene Bevölkerungsschichten existieren, so gibt es in der Seele drei verschiedene Kräfte, die miteinander um die Herrschaft ringen. Und er beweist, indem er für bewiesen annimmt, was er zu beweisen sucht, dass die Gerechtigkeit nicht nur eine Tugend, sondern die höchste ist.

Der Staat ist, nebenbei gesagt, vielleicht Platons Dialog mit der höchsten Dichte an Gleichnissen – jedenfalls an bekannten Gleichnissen. Das Höhlengleichnis, das Liniengleichnis und das Sonnengleichnis (in umgekehrter Reihenfolge ihres Erscheinens) sind hier ebenso zu finden, wie in Buch X jenes Gleichnis (oder jenen Mythos), der die Unsterblichkeit der Seele vor Augen führt.

Über die inhaltliche Qualität von Platons Utopie bzw. Staatsphilosophie viele Worte zu verlieren, lohnt sich eigentlich nicht. Neben ein paar sehr intelligenten Bemerkungen finden sich viele Platitüden, die Sokrates von sich gibt und als unumstößliche Tatsache festgehalten wissen will. Popper hat zu diesem Aspekt des Staats so ziemlich gesagt, was zu sagen ist.

Ein Text, der gelesen werden muss nicht wegen seiner Relevanz an sich. Relevant wird er erst durch die Tatsache, dass so viele spätere Staatsutopien und -dystopien sich an dieser oder jener Stelle bei ihm bedient haben. Meist nicht zu ihrem besten.


Platon: Der Staat. Jubiläumsausgabe zum 2400. Geburtstag. Band IV. Eingeleitet von Olof Gigon. Übertragen von Rudolf Rufener. Zürich, München: Artemis, 1974.

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