Powers gelingt ein solides, 750 Seiten umfassendes Prosawerk – aber auch nicht mehr. Der von den Nazis geflohene Physiker David Strom verliebt sich bei einem offenbar historischen Konzert von Marian Anderson in eine junge schwarze Sängerin (Nettie). Trotz der Vorbehalte von Familie und Gesellschaft wagen sie das Experiment einer Heirat, werden Eltern zweier außergewöhnlich begabter Söhne (der jüngere, nicht ganz so geniehafte der beiden dient Powers als Erzähler), müssen aber implizit das Scheitern des Versuches, eine Welt ohne rassistische Vorurteile schaffen zu helfen, eingestehen. Die Mutter wird bei einem (vermeintlichen?) Brandanschlag getötet, der Vater flüchtet sich in die surreale Welt der Einsteinschen Zeitschleifen und verliert zusehends den Bezug zur Realität. Joseph, der ältere der Brüder (und das dezidierte musikalische Genie) erfährt trotz dieses Talents die teilweise Zurückweisung der Kunstwelt (wobei das Schicksal der beiden Brüder darin besteht, weder der schwarzen noch der weißen Welt wirklich zugezählt zu werden und ihr Leben zu einer fortgesetzte Identitätskrise wird), Jonah bleibt ohnehin immer im Schatten des Älteren. Nur die jüngste Schwester Ruth emanzipiert sich weitgehend von der klassischen musikalischen Welt der Eltern und Brüder, heiratet ein Mitglied der Black-Panther-Bewegung und widmet sich dem Kampf um Gleichberechtigung an der Seite ihres Mannes.
Ruth ist auch die einzige, die nach einer Auseinandersetzung von Mama Nettie mit ihrem Vater (über die Art und Weise, wie man dem Rassismus in den USA begegnen sollte), die Verbindung mit diesem Teil ihrer Familie aufrecht erhält (die Vorfahren des Vaters sind allesamt durch die Nazis ermordet worden). Gegen Ende des Buches finden auch die beiden Brüder zu diesem Teil der Familie zurück und Jonah, der während seiner Sängerkarriere scheinbar die Tatsache schwarzer Vorfahren vergessen hat, stirbt bei Rassenunruhen in Los Angeles (in diese Unruhen gerät er eher aus Neugier und naiver Begeisterung, nicht aus Überzeugung für den Kampf der Betroffenen). Zurück bleibt ein Erzähler, der seine Erfüllung als Musiklehrer in einer von seiner Schwester gegründeten Grundschule findet – und deren Söhne, die durch den Tod ihres Vaters (er wird bei einer Polizeikontrolle als Schwarzer „versehentlich“ erschossen, ein nicht eben seltenes Schicksal) schon sehr früh für das Prekäre ihrer Lage sensibilisiert werden.
Das alles ist routiniert erzählt, leicht lesbar und eingängig – aber zum großen Roman fehlt dem Buch der Tiefgang, die Charaktere sind eindimensional und die Besonderheitstümelei (nie sind Kinder bloß begabt, auch die nicht von Ruth, ohne geniehafte Anwandlungen geht es nicht ab) verleiht – wie häufig in solchen Fällen – dem Buch gerade nichts Besonderes, sondern ist der alltägliche und enervierende Versuch von Schriftstellern, ihre Figuren mit dem Flair des Außergewöhnlichen zu verstehen. Außergewöhnlich aber kann einzig die Darstellung sein – und die kann sich durchaus auf einen Allerweltscharakter beziehen. Und gerade die in das Buch eingeflochtene, musikalische Gelehrsamkeit unterscheidet einen Roman wie den Dr. Faustus vom „Klang der Zeit“: Während man Kretzschmar vor sich sieht am Klavier, ihn zu hören glaubt, haben die Exkurse von Powers etwas von Einführungsvorlesungen in die Musikgeschichte.
Das Buch besitzt nichts, das es aus der großen Menge us-amerikanischer Romane herausheben würde: Dort, wo es um Tiefgang bemüht ist (bei den Exkursen zur physikalischen Zeit, der Musik), wirkt es eher altbacken und wenig mitreißend, ähnlich auch beim Thema Rassismus: Ich hatte nicht den Eindruck, eine besonders pointierte, einfühlsame Schilderung darüber zu lesen, wie sich jemand in einem Zustand permanenter Ausgegrenztheit fühlen muss. All das glaubte ich schon zu kennen – oft geistreicher, subtiler. Zu viele Seiten für einen Anspruch, der nur manchmal eingelöst werden konnte.
Richard Powers: Der Klang der Zeit. Frankfurt a. M.: Fischer 2004.