Beim Blättern in meiner Chamisso-Ausgabe bin ich (in der Rubrik Übersetzungen) auf diesen kurzen Text des mittelhochdeutschen Autors Hartmann von Aue gestoßen. Schon ein kurzer Blick auf den Anfang von Chamissos Gedicht ließ mich allerdings an dessen Übersetzungs-Charakter zweifeln. Es beginnt völlig außer der Epoche mit einer Zueignung an die Brüder Grimm. Ein kurzer Blick in die Rezeptionsgeschichte des Armen Heinrich bestätigte meine Vermutung: In der Romantik nämlich war der Arme Heinrich vielleicht das bekannteste Epos Hartmanns. Es ist erst später ein wenig in Vergessenheit geraten. Die beiden Grimm aber waren jene, die den Armen Heinrich zum ersten Mal ins Deutsche übertragen haben, und bei Chamissos Text handelt es sich nicht um eine eigentliche Übersetzung, sondern um eine Nachdichtung der Grimm’schen Übersetzung. So weit dazu, wie ich gerade jetzt zu gerade diesem Text gekommen bin.
Zurück zu Hartmann. Der nämlich ließ sein Epos mit einer für seine Epoche einzigartigen Bemerkung zur eigenen Person anheben. Darin nennt er sich einen gelehrten Ritter – will sagen: einen Ritter, der lesen und schreiben konnte. Das war eigentlich völlig unstandesgemäß, denn fürs Lesen und Schreiben hatte man Personal – eben die so genannten „Schreiber“. Hartmann aber, und das ist das Ungewöhnliche an diesem Anfang, ist sogar stolz darauf, dieser Künste mächtig zu sein, und nicht nur Ritter zu sein, sondern auch Dichter:
Ein ritter sô gelêret was,
daz er an den buochen las,
swaz er dar an geschriben vant:
der was Hartman genant,
dienstman was er zOuwe.
er nam im manige schouwe
an mislîchen buochen:
dar an begunde er suochen,
ob er iht des vunde,
dâ mite er swære stunde
möhte senfter machen,
und von sô gewanten sachen,
daz gotes êren töhte
und dâ mite er sich möhte
gelieben den liuten.
Bei der Geschichte des adligen Heinrich von Ouwe (er trägt also den Nachnamen des Dichters!) scheint es sich um eine eigene Erfindung Hartmanns zu handeln – auch das für seine Zeit sehr ungewöhnlich. Er selber hat ja seine früheren Epen aus französischen bzw. provenzalischen Quellen genommen. Hier aber lässt sich zumindest keine nachweisen – außer der (auch von Hartmann im Text selber erwähnten) Geschichte des alttestamentarischen Dulders und von Gott gestraften Hiob, zumindest, was den Sturz des Protagonisten aus höchster weltlicher Höhe betrifft. Einen Teufel aber zum Beispiel finden wir bei Hartmann nicht.
Heinrich also ist von Adel und besitzt auch alle adligen Tugenden der Zeit (êre, stæte, triuwe, milte)und ein perfektes höfisches Benehmen (Fertigkeit im Minnesang inklusive). Wo andere dies als endgültiges Ziel und Gipfel der Geschichte anvisiert hätten, fängt Hartmann erst an. Er lässt Gott diesen Heinrich an Aussatz erkranken, worauf sich die Welt in Ekel und Furcht von ihm abwendet. Alle Versuche, auch bei den berühmtesten Ärzten der Zeit (in Montpellier und in Salerno), Hilfe zu finden, scheitern. Ein einziger Arzt in Salerno meint zwar, es gäbe ein Heilmittel, aber man werde es nicht anwenden können. Es müsste sich nämlich eine heiratsfähige Jungfrau finden, die sich freiwillig für ihn opfere: Mit deren Herzblut eingerieben, könnte er Heilung finden.
Hoffnungslos kehrt Heinrich in seine Heimat zurück und zieht sich auf einen Meierhof zurück, der zu seinen Besitzungen gehört. Es kommt, wie es kommen muss: Die Tochter des Meiers erfährt, was das einzige Heilmittel für Heinrich wäre. Wir würden heute sagen: Halb aus Liebe zu ihm, halb aus religiösem Wahn, erklärt sie sich bereit, für ihn zu sterben. Die Eltern können es ihr nicht ausreden, und so reist sie mit Heinrich nach Salerno. Selbst der Arzt, der doch dieses Heilmittel explizit erwähnt hatte, versucht, ihr das Opfer auszureden. Es gelingt ihm nicht. Erst, als Heinrich die nackte junge Frau auf dem Seziertisch angebunden sieht, erkennt er, was er da zu tun im Begriff ist. Im letzten Moment lässt er das Opfer stoppen. Die junge Frau ist einigermaßen ungehalten, hat er sie doch nun um die einzigartige Chance gebracht, express und erste Klasse in den Himmel einziehen zu können.
Abermals kommt es, wie es kommen muss: Auf dem Rückweg aus Italien lässt Gott den armen Heinrich genesen. Zurück im Schwabenland heiratet Heinrich dann seine Jungfrau trotz des Standesunterschieds. Beide gewinnen die ewige Seligkeit – über die irdische äußert sich Hartmann nicht …
Das kleine Epos spiegelt in vielem die mittelalterlichen Verhältnisse zwischen Mann und Frau – und auch die sehr hoch gezüchtete Religiosität der Bevölkerung. Dennoch unterläuft Hartmann diese Vorstellungen in vielfacher Hinsicht. Nicht nur, weil er sich selber als einen gelehrten Ritter einführt. Nicht nur, indem er vorgibt, seine Geschichte aus einer französischen Quelle zu haben, die sich zumindest bis heute nicht nachweisen ließ. Sondern auch und vor allem, indem er Standesunterschiede aufhebt und vor allem irdisches Glück doch offenbar vor dem himmlischen kommen lässt – und sei die Botschaft nur, dass Mann und Frau sich zuerst auf dieser Welt bewähren sollten, bevor sie sich um Aufnahme in eine jenseitige bemühen.