Martin Liechti: Leicht daneben. Aphorismen + Notate

Aphorismen als ein auf eine Pointe zugespitzter Gedanke verlangen danach, in wenige Worten abgehandelt zu werden. Kurz und knapp, ‚knackig‘ sollte so ein Aphorismus sein. Wenige können das – der Aphorismus gehört zur Hohen Schule des Schreibens. Im deutschen Sprachraum haben wir das Glück (für uns Publikum) bzw. das Pech (für die Mitglieder der schreibenden Zunft), dass mit Georg Christoph Lichtenberg vor rund einem Vierteljahrtausend einer da war, der die Kunst des Aphorismus vollendet beherrschte. Das ist Pech für die Mitglieder der schreibenden Zunft, weil natürlich direkt oder indirekt alle deutschsprachigen Aphorismen-Schreibenden an ihm gemessen werden – was zugegebenermaßen etwas unfair ist.

Vielleicht deshalb nennt Liechti, ein Schweizer Autor mit Jahrgang 1937, das vorliegende schmale Büchlein Aphorismen + Notate, um im Falle einer fachlichen Kritik an einem seiner Aphorismen jederzeit sagen zu können: ja, in diesem Fall handle es sich selbstverständlich um ein Notat, nicht um einen Aphorismus. Ich weiß es nicht.

Ich weiß nur, dass die technische Qualität seiner Aphorismen + Notate verbessert werden könnte. Liechti will offensichtlich alles präzise ausdrücken, will auf keinen Fall missverstanden werden. Deshalb bietet er manchmal zwei oder drei Formulierungen desselben (oder doch eines ähnlichen) Gedankens. Und er verwendet jede Menge Füllwörter, die den Satz – und damit den Sinn, den Gedanken – leider nur zu oft verwässern. Manchmal ist auch ganz einfach der Gedanke, den Liechti ausdrücken will, zu vage gehalten, zu „metaphysisch“ (im pejorativen Sinn.) So oder so geht dann das ‚Knackige‘ verloren, ohne dass das Präzise gewinnen würde. Das ist schade.

Inhaltlich erweist er sich als der pessimistische Kulturkritiker konservativen Schlags. Seine Gedanken drehen sich darum, dass der Mensch sich zusehends „roboterisiert“, zu einer Art künstlicher Intelligenz mutiert und dabei sein Menschliches (wie immer man das definieren mag) verliert. Er ist dabei zugegebenermaßen nicht so plump, einfach das zunehmende Starren der Leute in Bus und Zug auf ihr Smartphone zu kritisieren. Ein anderes, immer wieder aufscheinendes Thema ist der Tod. Der Tod als das absolute Ende des Lebens – es scheint für Liechti keine Fortsetzung danach zu geben. Der Tod als etwas, das Angst einflößt – selbst die Liebe, ein weiteres prominentes Thema, hat gegen den Tod keine Chance. Vor allem zum Sujet des Sterbens sind Liechti einige seiner zwar nicht formal, aber inhaltlich stärksten Notate gelungen, die einen, wenn man sich selber langsam auf dieses Ereignis zubewegt, schon beschäftigen können. Die Kritik an der Schweiz hingegen, und an den Schweizern, ist wenig originell – vermischt sich auch oft mit der an der Selbst-‚Roboterisierung‘ der Menschheit.

Die Aphorismen sind nach – ihrerseits alphabetisch sortierten – Kapiteln angeordnet, von A wie Abdrift bis Z wie Zur Sache. Obwohl das Buch in einem österreichischen Verlag erschienen ist, legte Liechti offenbar Wert darauf, die Orthographie nach Schweizer Regeln zu halten. Auch verwendet der Text Zeilenumbrüche, mit dem Resultat, dass nun ein Notat aussieht und automatisch so gelesen wird wie ein Gedicht in freiem Versmaß. (Was dann wiederum die Unschärfe des Gedankens akzentuiert.) Vielleicht ist diese allgemeine Unschärfe ja auch Absicht, und der Autor möchte, dass sein Publikum selber nachzudenken beginnt. Wenn, dann hat er (zumindest bei mir) seine Absicht nur teilweise erreicht – über abstrakt Vages kann ich nicht konkret nachdenken. Allenfalls träumen. Aber vielleicht war auch genau das die Absicht von Martin Liechti?

Das klingt jetzt alles ein bisschen schlechter, als diese Aphorismen und Notate tatsächlich sind. Aber eben: Lichtenberg …

Zum Schluss ein Beispiel eines Notats:

Der Übermensch wird kein Herkules // sein, sondern ein Datenträger, der // allzumenschliche Entscheidungen // objektiviert und optimiert.

S. 31, Kapitel Bescheidung

Die // bezeichnen jeweils einen Zeilenumbruch (in WordPress sind Gedichte nur schlecht darstellbar). Man sieht: Martin Liechti hat seinen Nietzsche gelesen.


Martin Liechti: Leicht daneben. Aphorismen + Notate. Hohenems et al.: Bucher Verlag, 2020

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