Zu Lebzeiten war Fernando Pessoa – wenn überhaupt – nur für seine Lyrik bekannt, bzw. die Gedichte seiner Heteronyme. Heute denkt man, wenn man an Pessoa denkt, wohl zuerst an Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Ein Buch, an dem er Jahrzehnte lang arbeitete, zu dem er immer wieder neue Bemerkungen hinzufügte, das er aber nie in eine finale Version brachte. Ob das Buch, falls er je dazu gekommen wäre, tatsächlich so ausschaute, wie es aktuell vor uns liegt, darf bezweifelt werden. Es ist ja bis heute so, dass je nach Herausgeber der Inhalt dieses Buchs immer ein wenig variiert, indem nicht jeder genau dieselben Reflexionen in derselben Reihenfolge montiert.
Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares weist nämlich keine eigentliche Handlung auf. Man kann es deshalb auch nicht zusammenfassen. Wir haben rund 550 Seiten von Anmerkungen, Reflexionen und aphorismenartigen Sentenzen vor uns, in denen Bernardo Soares über sein Leben und sein Wesen nachdenkt. Soares mag gegen außen ein Hilfsbuchhalter sein, aber er führt ein ganz anderes Innenleben. Da ist er nämlich Dichter und seine Gedanken drehen sich darum, wie er (Soares) die Umgebung in sich aufnimmt; sie drehen sich um die Leere, die in seiner Persona herrscht, um die Art und Weise, wie er seine Umgebung aufnimmt (nämlich mit etwas, das er einmal sinngemäß völlig unkonzentrierte Präzision nennt). Soares hat Freunde, die namenlos bleiben und von denen keiner weiß, wie es mit ihm wirklich steht. Aber diese „innere Wirklichkeit“ ist eben auch keine Wirklichkeit – Soares ist ein Spiegel, der nicht spiegelt. Oder nur manchmal. Und nicht das, was man erwarten würde.
So oszilliert Soares zwischen Wirklichkeit und Illusion, selber nicht genau wissend, was nun was ist, wer er nun ist – und das macht eben seine Unruhe aus. Das ist, was macht, dass er sich als Literaten sieht, auch wenn er keine einzige Zeile veröffentlicht hat. Schreiben allerdings tut er, aber nur für sich. Die Menschen, mit denen er am meisten in Berührung kommt, und die als einzige in seinen Aufzeichnungen vorkommen, sind seine Arbeitskollegen in einer kleinen Handlung irgendwo in der Altstadt von Lissabon. Aber auch sie sehen offenbar in ihm nur den Hilfsbuchhalter; den Literaten sieht keiner.
Man sagt, dass von allen Heteronymen Bernardo Soares dasjenige ist, das Pessoa selber am nächsten kommt. Zumindest für die äußerliche Stellung in der Welt gilt das. Ob Soares‘ Gedanken auch die Pessoas waren, wissen wir nicht, weil Pessoa (hierin tatsächlich wie Soares) sein eigenes Denken immer verhüllte. Deshalb ist es durchaus möglich, dass Soares‘ Poetologie, die er in seinen Bemerkungen entwickelt (enthüllt), diejenige Pessoas gewesen sein könnte.Widersprüche lassen sich jedenfalls keine ausmachen.
Alles in allem auch in seiner Sprache ein faszinierendes Werk. Pessoa, der Lyriker, versteht es, eine Stimmung zu kreieren, die einen als lesende Person einzuwickeln vermag. Soares leidet nicht, und die Lesenden leiden mit ihm.
Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Herausgegeben von Richard Zenith. Aus dem Portugiesischen übersetzt und revidiert von Inés Kobel. Frankfurt/M: Fischer Taschenbuch, 2006. [Eine Lizenzausgabe noch des Ammann-Verlags seeligen Angedenkens in Zürich, der später aufgegeben wurde, weil sein Besitzer keinen geeigneten Nachfolger fand.]