Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse

Diese Erzählung war das erste Werk, das Raabe veröffentlichen konnte. Er schrieb es 1854 / 1855. In diesem Jahr wurde es auch veröffentlicht – vordatiert auf 1856. Die Chronik der Sperlingsgasse war sofort ein großer Erfolg. Ich habe auf die Schnelle keine genauen Zahlen gefunden, bin aber der Meinung, dass es bis an Raabes Lebensende dasjenige seiner Bücher blieb mit dem grössten Erfolg. Noch sein letzter Roman, der vierzig Jahre später entstandene Die Akten des Vogelsang, erweist in seinem Titel dem Erstling eine unübersehbare Referenz. Raabe war insgesamt etwas über vierzig Jahre als Schriftsteller tätig, und er war der erste deutsche Autor, dem es gelang, vom (wie man so schön sagt) Ertrag seiner Feder zu leben. Entsprechend groß war sein ‘Output’ – es müssen etwa siebzig Romane und Erzählungen von ihm existieren. Einiges wenige davon ist Weltliteratur; vieles ist trivial. Leider geraten heute auch die Werke Raabes in Vergessenheit, die der Weltliteratur zuzuzählen sind.

Die Chronik der Sperlingsgasse nun gehört nicht zu den ganz, ganz großen Werken Raabes. Zu sentimental und rührselig (um nicht zu sagen: kitschig) wird er zwischendurch. Er kann sich mit 24 Jahren offenbar das Leben eines älteren oder alten Mannes, wie es sein Ich-Erzähler Johannes Wacholder ist, nicht anders vorstellen, als ein rein passives, beinahe vegetatives Leben in der Gegenwart – lebenswert nur noch durch sentimentale Erinnerungen an die Vergangenheit. Dass er nicht völlig im Trivialen, im Kitsch, versinkt, verdankt der Roman vor allem seiner komplexen Erzählstruktur. Raabe erzählt die Geschichte der Bewohner der Sperlingsgasse nämlich – anders, als es der Titel der Erzählung vermuten ließe – keineswegs chronologisch. Zum einen nämlich rapportiert Wacholder immer wieder aus seiner aktuellen Gegenwart (die im Übrigen in etwa mit der Gegenwart des Autors identisch ist – Wacholder schreibt also zu Beginn der 1850er an seiner Chronik). Schon der Beginn der Erzählung aber ist in seiner Chronologie heimtückisch, erzählt doch Wacholder von seinem Leben und seiner Sperlingsgasse schon, bevor er an den Punkt in seiner Gegenwart angelangt ist, an dem er sich das Papier besorgt, um die Chronik zu verfassen.

Man muss aus Andeutungen entnehmen, dass es sich bei der Sperlingsgasse Raabes um die ehemalige Spreegasse in Berlin handelt, in der Raabe eine Zeitlang gewohnt hat, allerdings nicht im Dachstock, wo er seine Helden, romantisch-kitschig, hausen lässt. (Diese Gasse wurde viel später zu Ehren Raabes in Sperlingsgasse umbenannt, noch später (zu DDR-Zeiten) zur Unkenntlichkeit generalsaniert und heute steht m.W. dort noch ein einziges Gebäude – ein Plattenbau aus der DDR.)

Die Chronik ist auf den ersten Blick keine Chronik der ganzen Sperlingsgasse. Es ist die Geschichte vor allem einer Familie, die Geschichte von Franz Ralff, Kunstmaler und Wacholders Jugendfreund, und Marie, die Ralff liebt und später auch heiratet (und in die auch Wacholder verliebt war, aber – von Natur aus nicht der Torjäger, sondern bestenfalls auf der Ersatzbank zu finden – gegen den lebensprallen Freund keine Chance hatte). Bald nach der Geburt einer Tochter stirbt zuerst Marie, dann Franz. Es bleibt die Tochter, und es bleibt der Ersatzspieler, der sie als Vormund aufzieht. Elise, so heißt die Tochter, ist nicht nur äußerlich das Ebenbild der verstorbenen Marie, in ihr wiederholt sich auch die Liebesgeschichte zu einem Kunstmaler.

In diese Liebesgeschichte flicht Wacholder nun auch Begegnungen mit anderen Bewohnern der Sperlingsgasse ein. Dadurch wird die Erzählung plötzlich zu mehr als nur der Chronik einer engen Gasse im alten Berlin. Historische Geschehnisse, die sogar der Weltgeschichte zuzurechnen sind, spielen hinein. Nicht aber so, dass Wacholder zum Historiker würde, der eine Weltchronik schriebe. Die Weltgeschichte wird immer von einfachen Bewohnerinnen und Bewohnern der Sperlingsgasse erzählt bzw. erlebt. Die „Franzosenzeit“ nämlich, als die Truppen Napoléons Berlin besetzten; die Befreiungskriege, in denen der Handwerker am andern Ende der Gasse seine beiden einzigen Söhne verliert (was Wacholder einem neuen Freund namens Strobel in seiner Gegenwart von der Witwe des Handwerkers erzählt wird); die Demagogenverfolgung, der ein harmloser Lehrer zum Opfer fällt, der deswegen nach Amerika auswandern muss; ein anderer Freund Wacholders wird wegen satirischer Veröffentlichungen zur Politik des Landes verwiesen und geht in seine Heimatstadt München zurück, wo er seine Jugendliebe heiratet, auf weitere Veröffentlichungen zur Politik verzichtet und zusammen mit seiner Gattin dick und rund wird. All dies macht aus der Sperlingsgasse auch ein Fenster zur „großen Welt“, aus der Chronik einer schmalen Gasse in Berlin eine Weltchronik aus Sicht der betroffenen einfachen Menschen.

In der Art und Weise, wie Raabe dies alles verwebt, zeigt sich durchaus schon die Klaue des Löwen. Später würde er noch die Sentimentalität fallen lassen, die die Chronik der Sperlingsgasse doch des öfteren – vor allem zu Beginn – etwas verdirbt. Dennoch: durchaus eine Leseempfehlung von mir.

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