Über die Reihenfolge, in der die vier oder fünf Romane aus dem Universum von Gargantua und Pantagruel zu lesen oder zu publizieren seien, wird immer wieder einmal gestritten. Da gibt es jene, die die Romane in der Reihenfolge lesen, die von der internen Chronologie des erzählten Universums vorgegeben ist. Dann liest man – wie ich hier – die Geschichte Gargantuas als erste. Jene, die von der Chronologie der realen Welt ausgehen, werden hingegen diese Geschichte als zweite lesen, weil Rabelais selber zuerst die Geschichte von Pantagruel veröffentlichte. (Also: die erste Geschichte von Pantagruel – diese hat noch zwei oder drei Fortsetzungen erhalten, somit das Erzähluniversum auf vier oder fünf Romane vergrößernd.)
Gargantua ist ein Riese, und der ist schon als Baby riesig. (Wobei seine Größe im Lauf der Geschichte variiert: Er kann so groß sein, dass er knapp zwischen den beiden Türmen von Notre-Dame in Paris Platz findet, er kann aber auch nur wenig über menschlicher Grösse aufweisen.) Im Wesentlichen erzählt La vie tres horrifique du grand Gargantua, pere de Pantagruel jadis composee par M. Alcofribas abstracteur de quinte essence (kurz: Gargantua) die Geschichte des Erwachsenwerdens des Titelhelden und seine frühen Heldentaten. Denn ein Held ist er. Schon früh überzeugt er seinen Vater von seiner überragenden Intelligenz dadurch, dass er diesem erzählt, wie er – durch eine Reihe (pseudo-)wissenschaftlicher Versuche, die an Bacon erinnern – herausfindet, welches Material am besten geeignet ist, um sich nach getanem Geschäft – den Hintern zu wischen. Sein Vater besorgt ihm verschiedene Hauslehrer und schickt ihn nach Paris. Die Hauslehrer stopfen ihn nach guter, alter aber sinnloser Manier mit Wissen voll, indem sie ihn sinnloses Zeug auswendig lernen lassen. Sie werden denn auch rasch durch den in humanistischem Sinn lehrenden Ponocrates ersetzt.
So richtig in sein Element kommt Gargantua erst, als sein Vater in einen Krieg mit einem benachbarten König verwickelt wird. Hier wird aus der Parodie eines Entwicklungsromans nun eine ebensolche der alten Ritterromane. (Das Ganze übrigens vor ernstem Hintergrund, denn der (hier) königstreue Rabelais nimmt hier in Form von Gargantuas Vater Partei für den französischen König Franz I., der sich in den italienischen Kriegen – nicht immer sehr glücklich, anders als Gargantua – gegen die Hegemonialpolitik Kaiser Karl V. wendete.)
Mit dem Ende des Krieges ist aber für den Autor auch der Moment, in dem er sich seinerseits gegen Franz I. wendet, der zusehends in den aufkommenden Absolutismus rutschte und eine Politik der Intoleranz gegen die reformierten Bürger seines Landes, die Hugenotten, installierte. Rabelais war seinerseits befreundet mit Erasmus von Rotterdam und wünschte ähnlich wie sein Freund eine sanfte Renovation der katholischen Kirche von innen. (Nebenbei teilte er mit Erasmus auch die Liebe zum antiken Schriftsteller Lukian von Samosata.)
So folgt auf den Krieg (für Franz I.) nun in Gargantua die Utopie der Abtei von Thelema. (Es gibt Interpretationen, die hinter dieser Abteil eine Parodie einer Utopie sehen – dem kann ich nicht zustimmen.) Diese Abtei ist konträr zu allen existierenden katholischen Abteien aufgebaut. Schon architektonisch stellt sie eine Besonderheit dar. Ganz bewusst lässt Gargantua keine Mauern um sie herum bauen, weil architektonische Grenzen bedeuten, dass man sich auch im Denken Grenzen setzt. Die Bewohner Thelemas aber sollen Männlein und Weiblein sein. Es sollen keinerlei Gesetze gelten, außer dem, dass keine Gesetze gelten sollen. Wie die Bewohner und Bewohnerinnen den Tag verbringen, ist ihnen überlassen. Rabelais aber ist überzeugt, dass eine schöne Umgebung in schönen Geistern (und andere sollen Thelema nicht betreten) auch schöne Gedanken wecken wird. Das Setting erinnert natürlich auch an jenes, das sich die jungen Menschen gewählt haben, die Boccaccio im Decamerone vor der Pest aufs Land fliehen lässt. Die Stadtflucht der Hippies war ja nichts Neues unter der Sonne. Das Motto der Abtei lautet: Fay ce que tu vouldras – Tu, was dir beliebt. Als Abt setzt Gargantua einen seiner besten Helfer im Krieg ein, Frère Jean – ein Ebenbild im Denken seine Freundes Erasmus. Womit auch klar ist: Diese Abtei ist nicht für den durchschnittlichen Menschen. Neben einem ordentlichen finanziellen Polster benötigen die Bewohner und Bewohnerinnen auch einen humanistisch geschulten Geist, der sie erkennen lässt, was wirklich erstrebenswert ist. Und das ist wohl der utopischste Teil an der Geschichte der Abteil Thelema. (Dennoch fühlte sich die Sorbonne verpflichtet, das Buch von Gargantua zu verbieten … )
Mit der Utopie um Thelema endet der erste (oder eben: zweite) Teil der Erzählungen aus dem Universum von Gargantua und Pantagruel. Besser als in Thelema kann es den Leuten um Gargantua nicht mehr gehen.
1 Reply to “François Rabelais: La vie tres horrifique du grand Gargantua, pere de Pantagruel jadis composee par M. Alcofribas abstracteur de quinte essence. Livre plein de Pantagruelisme”