Marcus Willaschek et al. (Hrsg.): Kant-Lexikon

Kant-Lexikon. Herausgegeben von Marcus Willaschek, Jürgen Stolzenberg, Georg Mohr, Stefano Bacin. Unter Mitarbeit von Thomas Höwig, Florian Warwede, Steffi Schadow. In Verbindung mit Eckart Förster, Heiner Klemme, Christian Klotz, Bernd Ludwig, Peter McLaughlin, Eric Watkins. Berlin, Boston: de Gruyter, 2021. [Text- und seitenidentisch mit der Ausgabe von 2015, aber andere ISBN]


Mit diesem Kant-Lexikon haben Marcus Willaschek und seine Mitarbeiter ein Desiderat der Forschung erfüllt. Das bisher als Referenz dienende Lexikon von Rudolf Eisler stammte aus dem Jahr 1930 und ist in die Jahre gekommen. Hier nun sind so ziemlich alle (jedenfalls habe ich keinen fehlenden gefunden!) Begriffe versammelt und erklärt, die Kant im Laufe seiner wissenschaftlich-philosophischen Laufbahn in seinen Schriften verwendet hat. Gleich das erste Stichwort (a priori / a posteriori) ist paradigmatisch für den Aufbau eines jeden Artikels in diesem Lexikon. Zum einen werden zusammen gehörende Begriffe in ein und demselben Lemma abgehandelt. Zum andern ist auch der Aufbau einer jeden Erklärung immer derselbe:

Es folgt zuerst eine kurze Definition des Wortes – und zwar an Hand des Kant’schen Werks. Will sagen: Wir erfahren, was Kant unter dem zu erklärenden Begriff verstanden hat. Diese Definition wird mit Beispielen und weiteren Stellenangaben aus Kants Werk untermauert. (Diese Stellennachweise aus den Kant’schen Werken erfolgen, nebenbei, mit Ausnahme der Kritik der reinen Vernunft, die nach den beiden Auflagen A und B aufgeführt wird, mit Band- und Seitennummer der Akademie-Ausgabe.)

Als nächstes finden wir einen kurzen Abschnitt zu Verwandten Stichworten; das vorliegende Lemma wird also vernetzt mit weiteren von Kant verwendeten Begriffen, die ebenfalls als solche Eingang ins Lexikon gefunden haben.

Danach der wohl wichtigste und interessanteste Teil: die Philosophische Funktion. Hier wird nun nicht nur Kants Definition eines Begriffs angeführt, sondern es erfolgt eine philosophische Einordnung und Interpretation. Alle Beiträger und Beiträgerinnen (es sind hier sehr viele Frauen zu finden – es gibt sie also, die Philosophinnen!) beschränken sich dankenswerter Weise hier darauf, Kants Denken zu verdeutlichen und keine eigenen Gedanken einfließen zu lassen. Wir finden also keine postume Kritik von Begriffen in Kants Verwendung. Was wir aber finden, sind – wo sie existieren – Hinweise auf die Entwicklung, die Kants Verwendung eines bestimmten Begriffs unter Umständen genommen hat. Das kann beim eher naturwissenschaftlich ausgerichteten Frühwerk beginnen und endet dann in den Notizen, die Kant noch als Emeritus gemacht hat. Krankheitshalber konnte er sie nicht mehr fertig stellen, geschweige denn publizieren. Diese Notizen wurden erstmals 1936 / 1938 in der Akademie-Ausgabe veröffentlicht, unter dem Titel eines Opus postumum. (Vor allem für mich sehr interessant, der ich Kants Opus postumum bisher nicht zur Kenntnis genommen habe.) Diese Erklärung der Philosophischen Funktion kann, je nach Wichtigkeit des Begriffs in Kants Philosophie mehrere Seiten umfassen. Bei weniger wichtigen Stichworten verzichtet das Lexikon dann auch schon mal darauf.

Den Schluss eines Lemmas macht jeweils ein Abschnitt mit Weiterführender Literatur. Die meisten dort zitierten Aufsätze und Bücher stammen aus den 1990ern und dem 21. Jahrhundert, nur selten wird ältere Sekundärliteratur zitiert. Man sieht: Die Herausgeber versuchten, ihr Lexikon möglichst dem aktuellen Forschungsstand anzugleichen.

Neben begrifflichen Lemmata stehen dann noch welche zu jedem veröffentlichten Werk Kants. Dort finden wir eine kurze und sachliche Zusammenfassung des jeweiligen Werks, und dann ebenfalls einen Abschnitt mit Weiterführender Literatur; für beide gilt dasselbe wie oben. Zu diesen Werken gehören auch veröffentlichte Vorlesungsnachschriften von Studenten, auch wenn deren Zuverlässigkeit nicht immer so ganz gegeben ist. In den meisten Fällen werden den Forschenden auch die Aktuellen editorisch zuverlässigen Textausgaben genannt – und das ist nicht immer die Akademie-Ausgabe (für einige Aufsätze ist es sogar die von mir hier vorgestellte Ausgabe von Wilhelm Weischedel!) – sowie Verbleib (oder eben nicht) eines allfälligen Manuskripts.

Namentlich aufgeführt sind auch alle Zeitschriften, in denen Kant – von seinen ganz frühen Schriften weg – publiziert hat, mit einer kurzen Geschichte ihrer „Lebenslaufs“ (Erscheinungsweise, Herausgeber, politisch-philosophische Ausrichtung etc.). Auch hier unter Umständen zum Schluss die Weiterführende Literatur.

Schließlich sind natürlich auch alle Personen aufgeführt, die in Kants Leben eine Rolle spielten, sprich: von denen man weiß, dass Kant mit ihnen in direktem, zumindest schriftlichem Austausch stand bzw. mit deren Werk er sich auseinander gesetzt hatte. Diese Einträge beinhalten eine kurze Biografie der Person und eine Explikation des Zusammenhangs, in dem sie mit Kant stehen – wo vorhanden, mit einer Darstellung der philosophischen Übereinstimmungen oder Divergenzen. In vielen Fällen finden wir auch hier zum Schluss die obligate Weiterführende Literatur.

Beim Studium der angeführten Personen fällt so einiges ins Auge.

So zum Beispiel, dass sich Kant in seiner Auseinandersetzung mit Vorgängern im Großen und Ganzen weder wissenschafts- noch philosophiegeschichtlich hinter die Linie Leibniz – Newton begibt (außer noch für Galilei, Descartes und Spinoza – Epikur interessierte ihn eher als Schlagwort für eine bestimmte Art des Philosophierens). Jedenfalls findet man keine früheren Namen oder Begriffe. Andererseits sind vom so genannten Deutschen Idealismus, also jenen Philosophen, die für sich in Anspruch nahmen, Kant nicht nur zu explizieren, sondern in ein der einen oder anderen Art zu „vollenden“, zwar Fichte aufgeführt (der Kant ja in Königsberg besucht hat, und dessen Kritik aller Offenbarun von Kant an seinen Verleger vermittelt wurde, der das Werk außerhalb von Königsberg ohne Autorenangabe auslieferte, so dass man es allgemein für das neuste Werk Kants hielt, was diesen wiederum zu einer Gegendarstellung bewog), wie auch Schelling (den Kant offenbar – was ich auch nicht wusste – fleißig studiert hat, und dessen Werke in Kants Bibliothek standen). Der mit Schelling gleichaltrige Hegel aber fehlt. Je nun – der war ein philosophischer Spätzünder; seine große Zeit sollte erst nach Kants Tod kommen. (Schopenhauer wiederum war zu jung.)

Ähnlich ist es bei der so genannten Deutschen Klassik. Auch hier finden wir nicht einmal bei den Weimarern alle Namen im Lexikon. Herder figuriert natürlich darin – er war ein ehemaliger Schüler Kants und hat auch später noch über den Kritiken mit diesem öffentlich die Klingen gekreuzt. Ebenso Schiller, dessen Kritik an Kant in Über Anmut und Würde von diesem nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auch in einer Fußnote der zweiten Auflage von Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft zurückgewiesen, bzw. als Missverständnis deklariert wurde. Wieland wiederum war Korrespondenzpartner Kants in seiner Funktion als Herausgeber des Teutschen Merkur, im dem Kant so einiges veröffentlichte. Daneben, so der Eintrag im Lexikon, hat Kant vor allem Wielands literarische Werke zur Kenntnis genommen und sehr geschätzt. Der Name „Goethe“ aber fehlt. Womit ich für mich nun auch von der Seite Kants her bestätigt finde, was Goethe in einem für ihn typischen Akt von gleichzeitiger Selbsteinsicht und Selbstüberhebung im Gespräch mit Eckermann vom 11. April 1827 sagte:

Kant hat nie von mir Notiz genommen, wiewohl ich aus eigener Natur einen ähnlichen Weg ging als er. Meine „Metamorphose der Pflanzen“ habe ich geschrieben, ehe ich etwas von Kant wusste, und doch ist sie ganz im Sinne seiner Lehre. Die Unterscheidung des Subjekts vom Objekt und ferner die Ansicht, dass jedes Geschöpf um seiner selbst willen existiert und nicht etwa der Korkbaum gewachsen ist, damit wir unsere Flaschen pfropfen können, dieses hatte Kant mit mir gemein, und ich freute mich, ihm hierin zu begegnen.

Andere Namen, um zum Kant-Lexikon zurückzukehren, sind die von Politikern und Monarchen, mit denen Kant amtlich bzw. beruflich zu tun hatte, der Mitglieder seines Königsberger Freundeskreises, der sich regelmäßig bei ihm zum Mittagessen traf – und last but not least: sein Diener Lampe.

Dieses Lexikon (nicht zu verwechseln mit der Studienausgabe 2017 von denselben Herausgebern und im selben Verlag erschienen, die nur eine Auswahl aus dem Ganzen bietet!) ist aktuell zu einem Preis von € 149.00 im Buchhandel erhältlich und gehört meiner Meinung nach nicht nur in jede Institutsbibliothek, sondern auch in jede private Bibliothek von Leuten, die sich – von Zeit zu Zeit, mal mehr mal weniger – mit Philosophie beschäftigen. Oder mit Kant. Ich wünschte, so etwas hätte es schon zu meiner Zeit gegeben. Es ist nicht alles schlecht in der modernen Zeit …

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