Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transzendentalen Idealismus

Schelling, der Philosoph, war ein Chamäleon. Er änderte den Zuschnitt seiner Philosophie in ungefähr dem gleichen Rhythmus wie seine Zeitgenossen Zuschnitt und Farbe ihrer Weste. Wobei meine beiden Vergleiche aber auch darauf hinweisen wollen, dass Grundlegendes beibehalten wird. Das Chamäleon bleibt ein Chamäleon, gleichgültig, welche Farbe es aktuell angenommen hat. Und eine Weste bleibt eine Weste, auch wenn sie im Verlauf der Jahre vielleicht ein wenig weiter geschnitten werden muss. So blieb auch die Schelling umtreibende Fragestellung immer die gleiche – nämlich die nach der Freiheit. In der vorliegenden Schrift ist es die Willensfreiheit, die Schelling in extenso diskutiert; obwohl das System des transzendentalen Idealismus auch eine Teil zur politischen Philosophie enthält, ist der Philosoph hier zurückhaltend – die Französische Revolution, die 1800 ja noch nicht so weit zurücklag und die die drei Freunde am Tübinger Stift (Hölderlin, Hegel und er selber) nach einer Anekdote stürmisch gefeiert hatten, diese Revolution also wird mit keinem Wort erwähnt.

1800, als das System des transzendentalen Idealismus erschien, stand Schelling noch immer im Banne der Wissenschaftslehre von Johann Gottlieb Fichte. Er war aber, wie man bei der Lektüre unschwer erkennen kann, nunmehr dabei, sich frei zu strampeln. Er versucht in dieser Schrift, zu definieren, wie es überhaupt zur Trennung kommen kann von Subjekt und Objekt (bei Fichte: Ich und Nicht-Ich – zumindest den ersten Begriff verwendet Schelling noch, den zweiten nicht mehr). Gleichzeitig will er die grundlegende Erkenntnis des (Deutschen) Idealismus beibehalten, nach der das Ich das epistemisch und ontologisch Primäre darstellt, unmittelbar und unhintergehbar ist. Die Problemstellung ist nun zunächst, dass in der menschlichen Alltagserfahrung auch ist das nach der idealistischen Theorie doch vom Selbstbewusstsein gesetzte Objekt sich ebenso unmittelbar und unhintergehbar präsentiert wie das „Ich denke“, das gemäß Schelling jede Erfahrung begleiten muss. Diese Schrift nun zeigt Schritt für Schritt auf, wie es dazu kommt, dass das Ich ein Nicht-Ich nicht nur setzt, sondern sogar so setzt, dass es dem Ich als etwas Fremdes und erst noch zu Erfassendes begegnet. Grob gesagt, besteht Schellings Lösung darin, dass er verschiedene (ich sage mal) Stufen oder Formen des Subjekts postuliert, die verschiedenen Erkenntnisstufen oder -formen entsprechen.

Das Ganze ist dialektisch aufgebaut im Sinne der Art von Dialektik, die wir heute mit Hegel verbinden. Schelling hat aber später – zu Recht und auch ziemlich erbost – darauf hingewiesen, dass ihm das Primat dieser „Erfindung“ zustehe. Er hat damit, zumindest was die Veröffentlichung einer solchen Dialektik betrifft, zweifelsohne Recht. Als Hegel 1806/07 mit der Phänomenlogie des Geistes endlich das philosophische Tageslicht erblickte, hatte das Publikum allerdings Schellings System des transzendentalen Idealismus von 1800 wieder mehr oder weniger vergessen ob der Wandlungen des Philosophen. (Es ist aber auch festzuhalten, dass Hölderlin bereits 1799 dialektisches Denken entwickelt hatte – nicht in einer philosophischen Schrift allerdings, sondern in seinem Drama Empedokles und auch nur in einem zu Lebzeiten nicht veröffentlichten Fragment. Hegel hätte das Fragment kennen können, denn Hölderlin schickte es ihm zu. Ob der Dichter es auch Schelling geschickt hat, kann ich nicht sagen. Auf jeden Fall kann ich mir vorstellen, dass Mitschriften der Gespräche der drei Freunde am Tübinger Stift und auch später noch, auch für die Philosophiegeschichte ungeheuer interessant sein würden.)

Die höchste Stufe der Erkenntnis des Spiels zwischen Subjekt und Objekt spricht Schelling dann einerseits dem Philosophen zu und – in einem Schlusskapitel zur Kunst – ebendieser bzw. den Kunstschaffenden. Die einen haben diese Erkenntnis bewusst, also subjektiv, die anderen unbewusst, also objektiv. Kunst als (eine) höchste Form des Erkennens der Dialektik von Subjekt und Objekt – wo und warum Novalis, der Philosoph(!), in seinen Fragmenten bei Schelling angesetzt hat, ergibt sich nun von selbst.

Heute vergessen, war Schelling um Zeit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert der wichtigste Philosoph Deutschlands. Seine Dialektik, damals neu und aufregend, hat sich überlebt. (Es ist aber zu sagen, dass Schellings Dialektik bedeutend einfacher zu lesen ist als diejenige Hegels – trotz des Umstands (oder vielleicht genau deswegen), dass Schelling bedeutend unsystematischer verfährt als sein Tübinger Stiftsfreund, was nur schon ein Blick aufs Inhaltsverzeichnis verrät, das für jedes Hauptkapitel völlig unterschiedliche Untergliederungen kennt.


Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transzendentalen Idealismus. Mit einer Einleitung von Walter Schulz und Ergänzenden Bemerkungen vonWalter E. Ehrhardt. Herausgegeben von Horst D. Brandt und Peter Müller. Hamburg: Felix Meiner 22000. (= Philosophische Bibliothek 448)

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