Wilhelm Raabe: Horacker

Raabe hatte sich von dieser Erzählung einen größeren Erfolg erwartet, als sie tatsächlich erzielte. Immerhin war er als freier Schriftsteller auf die Einnahmen aus seinen Veröffentlichungen angewiesen, und im Grunde genommen sollte man erwarten können, dass eine nicht allzu lange Erzählung, die dazu noch als Humoreske angepriesen wurde und die in einem durchaus ‚gemütlichen‘ Ton geschrieben war, beim Publikum ‚ankommen‘ sollte. Sie erlebte zwar von 1876 (ihrem Veröffentlichungsjahr) bis zum Todesjahr Raabes 1910 noch 14 Auflagen – der ganz große Erfolg, das ganz bekannte Stück Raabes, ist sie aber tatsächlich bis heute nicht geworden.

Vielleicht liegt das daran, dass das Publikum damals wie heute sehr wohl merkte, dass unter dem Samthandschuh der Gemütlichkeit und des sanften Humors die eiserne Faust einer scharfen satirischen Kritik an der Zeit und den Verhältnissen verborgen liegt. Das zeigt schon der allererste Abschnitt der Erzählung:

Einst war er sehr häufig auf den Gefilden Neuseelands anzutreffen, jetzt ist er erloschen. Den letzten, dessen man habhaft wurde, hat man ausgestopft und schätzt ihn als eine große Seltenheit; und wie ihn, den Vogel Kiwi – den letzten Vogel Kiwi –, sollte man eigentlich auch den letzten Konrektor ausstopfen und als etwas nie Wiederkommendes verehren. Was wir an gutem Willen dazu zu bieten haben, geben wir gern her; vielleicht liefern andere nachher das Stroh, den Draht und den Kampfer – letzteren gegen die Motten; denn was die Grillen anbetrifft, so wünschen wir dieselbigen uns selber zur Ausrottung vorzubehalten. Wir wünschen eine vergnügliche Geschichte zu schreiben, und wenn wir jemandem das schuldig sind, so ist unser alter Herr, der letzte Konrektor, der Mann. Er ist immer gegen das Lügen gewesen, wenn’s ihm heulend vorgetragen wurde; eine gute Schnurre dagegen wußte er schon selber mit Behagen ungemein glaubwürdig zu machen. Über das, was ihm aufgebunden wurde, hielt er selbstverständlich nicht Buch; doch sollen heimtückischer- und frivolerweise andere Leute dann und wann Buch darüber gehalten haben, seine Kollegen zum Exempel, nicht bloß seine Schüler.

Früher also war es noch besser – das ist tatsächlich der Grundtenor der Erzählung. Es geht darin um den 19-jährigen Horacker, den Titelhelden. Sohn einer mausarmen Witwe wusste er sich nicht anders zu helfen, als seinem Arbeitgeber, der ihn äußerst knapp hielt, ein paar Lebensmittel zu stehlen, um seinen Hunger zu stillen. Dafür wurde er in eine Fürsorgeanstalt gebracht. Noch ein Vierteljahr hätte er dort zu verbringen gehabt, dann wäre er als ausgelernter Schneider entlassen worden und hätte seine Geliebte, Lottchen Achterhang, heiraten können. Als ihm aber ein Mitzögling erzählt, sein Lottchen wäre ihm untreu geworden, kann Horacker nicht mehr an sich halten. Er reißt aus und schlägt sich durch nach Gansewickel(!), seinem Heimatdorf. Dort wagt er aber dann doch nicht sich zu zeigen, sondern haust in den angrenzenden Wäldern. Einzig seine Mutter weiß, wo er genau steckt. Nachdem man ihn aber trotzdem gesehen hat, beginnt im Dorf die Gerüchteküche zu brodeln. Fake News gibt es nicht erst seit Donald Trump; sie hießen zwar anders, entwickelten sich aber genau gleich: Aus dem unbehausten, hungernden Wesen im Wald wird rasch ein Räuber, dann der Hauptmann einer ganzen Bande, dann soll er nicht nur Leute ausgeraubt, sondern auch welche erschlagen haben, zum Schluss nennt man ganz konkret zwei Lehrer aus der nahen Stadt, die zusammen in eben demselben Wald spazieren gingen als seine Opfer. Es werden sogar genaue Details geliefert, wie das Hirn der beiden in der Gegend verspritzt sei und der eine aber doch noch den Namen seines Mörders habe nennen können – inklusive Nennung von Augenzeugen.

Das klingt nun nicht gerade nach Humoreske und gemütlich klingt es auch nicht. Aber schon das Zitat des ersten Abschnitts weist ja darauf hin, dass Horacker noch einen zweiten Erzählstrang aufweist. Eigentlich ist es ja der erste, denn Horacker selber taucht erst ziemlich spät persönlich auf und auch die Gerüchte um ihn hören wir als Lesende zwar ziemlich früh, aber nicht gleich ganz zu Beginn. Der zweite Erzählstrang, der eigentlich der erste ist, dreht um eine Gruppe von Lehrern am Gymnasium der nahe gelegenen Stadt und um den Pastor von Gansewinkel, sowie (so weit vorhanden) deren Gattinnen. Dieser Erzählstrang ist auch der satirische, und hier kritisiert Raabe nach Herzenslust die nicht nur dummen sondern richtiggehend verschlagenen Einwohner und Einwohnerinnen der Stadt und des Dorfs. Auch das Lehrerkollegium bleibt von Kritik nicht verschont, macht sich doch dort ein Graben bemerkbar, zwischen den Alten und den Jungen. (Wobei ein Junger allerdings zu den Alten hält.) Die Alten weisen jede Menge humorvoll geschilderter Macken auf, sind aber grundgütig und verfügen über eine Lebensweisheit, die macht, dass sie letzten Endes Horacker nicht nur einfangen können, sondern auch dafür sorgen, dass ihm aus der Dummheit seines Entweichens keine neuen Probleme entstehen. Die Jungen hingegen halten sich zwar für intelligent, sind aber nur engstirnige Egoisten ohne Mitgefühl.

Raabe bestimmt das Kippen der Welt im zweiten Kapitel der Erzählung sogar zeitlich genau:

Es hat also sechsundsechzigundeinhalb geschlagen, der Norddeutsche Bund ist gegründet worden, und der letzte Konrektor ist ein mit der weltgeschichtlichen Wendung vollständig einverstandenes Glied des Norddeutschen Bundes. Zwei seiner früheren Schüler sind unter den Preußen bei Königgrätz gefallen, einer unter den Hannoveranern bei Langensalza und einer – »ein arger Schlingel, aber sonst ein guter Junge« – verscholl bei einem Angriff ungarischer Husaren in der Schlacht von Custozza.

Diese Art, wie der Erzähler mit (hier historischem) Wissen, auch entlegenem, prunkt ist, nebenbei gesagt, finde ich immer wieder, typisch für den Autodidakten, der Raabe ja in vieler Hinsicht war. (Ein ähnliches Prunken mit angelesenem Wissen finden wir im 20. Jahrhundert dann auch bei jenem anderen großen Autodidakten der neueren deutschen Literatur, Arno Schmidt.)

Etwas später im zweiten Kapitel benennt Raabe die Handlungszeit der Erzählung dann genauer – allerdings abermals nicht ohne mit weiterem Wissen zu prunken:

Es war ein merkwürdiger Monat, dieser Monat Juli des Jahres achtzehnhundertsiebenundsechzig! Es war erstaunlich, was alles sich in der Welt ereignete und aufdringlich von der schon so konfusen Menschheit verlangte, in Obacht genommen und in Überlegung gezogen zu werden. In Paris befand sich die Weltausstellung im Gange, und Louis Napoleon, der dritte seines Namens, tat noch immer, als ob ihm ungeheuer leicht und so recht seelenvergnügt zumute sei, obgleich eben Max von Mexiko zu Queretaro vom schlimmen Juarez erschossen worden war. In den Chignons der Damen wurden die Gregarinen entdeckt, und Santa Anna, weiland Präsident der Republik Mexiko, starb auch in diesem Monat. Es versammelte sich zu seinen Vätern Heinrich der Siebenundsechzigste, regierender Fürst des Fürstentums Reuß jüngere Linie. Gera trauerte. Es verschied König Otto von Griechenland; doch blieb es unklar, ob Athen trauerte. Jedenfalls legte man keine Trauer in Deutschland an, als Thurn und Taxis sein vierhundertjähriges Postprivilegium niederlegte. Viele Bücher, Broschüren usw. erschienen immer noch über den Krieg von sechsundsechzig; doch das größte Wunder sollte gegen den Schluß des Monds eintreten: die Türken erschienen am Rhein! Sultan Abdul Aziz besuchte den König Wilhelm zu Koblenz.

Auch die heute immer wieder beklagte Reiz- und Informationsüberflutung wurde also schon 1876 konstatiert! Im Übrigen sind das alles wiederum historisch nachvollziehbare Ereignisse – und das, was ich oben den „gemütlichen Ton“ genannt habe, wird wohl auch aus diesem Zitat ersichtlich.

Alles in allem nicht das Beste von Raabe, aber dennoch für einen ‚gemütlichen‘ Leseabend durchaus angenehm. Am besten stopft man sich zur Lektüre eine der langen Pfeifen, wie sie die Herren Lehrer und Pfarrer der Erzählung so gern in Gang stecken.

2 Replies to “Wilhelm Raabe: Horacker”

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