War sich Voltaire dessen bewusst, dass seine reductio ad absurdum der Leibniz’schen Theodizee die (zugegeben nachgerade scholastischen) Feinheiten von dessen Argumentation grob beiseite fegte? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass das Denken Voltaires schwer zu fassen ist, weil er sich gern und meist in Bildern ausdrückte, Gleichnissen und Erzählungen. (Mir persönlich ist es schleierhaft, warum er seit dem 18. Jahrhundert als Philosoph gehandelt wird und auch in ernst zu nehmenden Philosophiegeschichten seinen Platz findet. Es gibt kaum eigenständige theoretische Schriften von ihm, meist drückte er sich in Pamphleten aus, in Dramen, Erzählungen und Romanen. Dort konnte er seinen Hang zum Witz und zur beißenden Satire besser ausleben und seine Unfähigkeit oder seine bewusste Weigerung, eine feste denkerische Position einzunehmen, aufs Schönste kaschieren.)
Während seine Dramen, die einmal als ‚klassisch‘ und zeitlos galten, heute allenfalls noch den Spezialist*innen bekannt sind, haben einige Prosawerke Voltaires die Zeiten überdauert. Das vielleicht bekannteste ist der vorliegende Candide oder Der Optimismus, in dem er Leibniz’ Idee, diese Welt sei die beste aller möglichen, gründlich verspottet. Dass Leibniz meinte, die beste aller Gott bei der Schöpfung möglichen – wegen der auch für ihn, Gott, geltenden logischen Einschränkungen (Gott kann nicht unlogisch sein) – dies lässt Voltaire unter den Tisch fallen. Um Leibniz zu widerlegen nimmt Voltaire die Figur des Candide, eines Deutschen, den er praktisch um den ganzen Erdball jagt und von einer Misere in die nächste geraten lässt. Während Candides Lehrer Pangloss, in der Meinung hierin Leibniz zu folgen, diese Unglücksfälle allenfalls als kleine dunkle Flecken auf der hellen Scheibe der Welt zu betrachten sucht, sind andere Gefährten (so der sich einen Manichäer nennende Martin, der aber im Grunde genommen einfach ein Pessimist Schopenhauer’scher Prägung avant l’homme ist) davon weniger überzeugt und selbst Candide, der so ziemlich kindlich an seinen Lehrer glaubt, gerät von Zeit zu Zeit ins Grübeln.
Genau betrachtet, ist Candide einfach der Pechvogel, der zur falschen Zeit am falschen Ort ist oder etwas Falsches sagt. Zum Beispiel geht er gerade zu dem Zeitpunkt in Lissabon an Land, als dort das große Erdbeben stattfindet, das noch den Rest des 18. Jahrhunderts beschäftigen sollte mit der Frage, wie so etwas von einem gütigen Gott gewollt sein könne. Er ist aber auch der Simpel, der nur aus Liebe zu seiner Kunigunde das utopische El Dorado wieder verlässt, in der Hoffnung sie, die als Sklavin gefangen gehalten wird, frei kaufen zu können. Zum Schluss findet sich die ganze Gesellschaft, die Candide im Lauf seiner Reisen um sich gesammelt hat, in einem Garten in einem Vorort von Konstantinopel wieder zusammen. Und es ist keineswegs der schöne Blumengarten, den sich der romantische Taugenichts geschaffen hat. Es ist genau jener Gemüsegarten, den er so verachtet – der aber unserer Gesellschaft lebens-, ja überlebensnotwendig ist, denn das Gemüse, das sie dort ziehen, verkaufen sie auf dem Markt. Von diesem Geld leben sie. Und wenn zum Schluss Candide eine weitere metaphysische Diskussion, wie sie Pangloss so gern führt, beendet mit: Wohl gesprochen, aber wir haben in unserem Garten zu arbeiten., dann ist das nicht nur der bescheidene Rückzug aus der ‚Großen Welt‘ und der ‚Großen Philosophie‘ – es handelt sich vielmehr um die schlichte Notwendigkeit, arbeiten zu müssen, um leben zu können. Voltaire propagiert kein Ideal, keine hehre Resignation, sondern er präsentiert den Alltag nur allzu vieler Menschen seiner (und der heutigen) Zeit.
PS. Den Bücherfreund:innen bzw. den Freund:innen klassischer Literatur empfehle ich übrigens das fünfundzwanzigste Kapitel, Besuch bei dem Herrn Pococurante, einem edlen Venezianer (man befindet sich gerade in Venedig), wo man zum Essen eingeladen ist. Nach dem Essen begeben sich Gäste und Gastgeber in die Bibliothek des letzteren, wo alle berühmten antiken Klassiker in herrlich gebundenen Ausgaben stehen. Der naive Candide stellt sich bei jedem dieser klassischen Werke vor, welchen Gewinn der Gastgeber aus dessen Lektüre gezogen haben muss und immer noch zieht. Der aber winkt jedes Mal ab und gibt vor, meist nur Langeweile bei deren Lektüre verspürt zu haben – eine kleine satirische Spitze Voltaires gegen alle jene, die nur bei den ‚Alten‘ Gutes zu finden glauben, dort aber dann gleich in jedem überlieferten Fitzelchen.
Alles in allem also ein sehr amüsante Lektüre, ein kleiner Roman, den Voltaire zum Glück nicht allzu lange gehalten hat. Er wusste, wann selbst die komischsten Einfälle zur Langweile führen. Wenn nicht als Philosoph, so doch als Romancier war er nämlich durchaus zu etwas fähig.