Gottfried August Bürger: Des Freiherrn von Münchhausen wunderbare Reisen und Abenteuer

Münchhausens Lügengeschichten waren fester Bestandteil meiner Lesesozialisation, zusammen mit den Kalendergeschichten Johann Peter Hebels. Dass bei der Ausgabe, die ich damals las, kein Autor angegeben war, störte mich dabei nicht im Mindesten. Was mich, ähnlich wie bei den Kalendergeschichten, faszinierte, war das bunte Panorama an Themen und Situationen, das in den Münchhausen-Geschichten aufgetischt wurde. Bei irgendeinem meiner Umzüge (nicht beim letzten von diesem Frühling!) habe ich meine ‚Kinder-Ausgabe‘ verloren oder auch weggeworfen. Jahre später kaufte ich mir ein billiges Taschenbüchlein, um die Geschichten nochmal zu lesen. Auf dieser Ausgabe war dann bereits Gottfried August Bürger als Autor angegeben. Als diesen Frühling dann die Büchergilde eine mit Holzstichen von Gustave Doré illustrierte Edition ankündigte, nahm ich das (und meinen Umzug) zum Anlass, mich von meiner Billig-Version zu trennen und (nach dem Umzug!) die Büchergilden-Edition zu kaufen. Der Tausch hat sich gelohnt; vor mir liegt eine in Leinen gebundene Ausgabe, reich illustriert und mit großzügigem Satzspiegel. (In großen Teilen handelt es sich offenbar um einen Reprint einer bereits 1954, damals noch in Zürich, erschienen Büchergilden-Ausgabe.)

Darauf, wie diese von Münchhausens Lügengeschichten zu Stande kam und auch, wie Bürger dazu kam, als deren Autor zu gelten, will ich mich hier nicht weiter auslassen. Wikipedia weiß das so gut wie ich. Wichtiger – für mich – ist mir der Umstand, dass ich bei der erneuten Lektüre feststellen musste, wie hart im Nehmen, und wohl auch wie grausam, Kinder offenbar sein können. Viele, vor allem der Jagdgeschichten, präsentieren mit heutigen Augen betrachtet reine Tierquälereien – gemildert nur dadurch, dass die geschilderten Ereignisse de facto unmöglich sind. Dennoch habe ich bei der Erzählung, wie Münchhausen einen Bären damit fängt, dass er die Deichsel eines landwirtschaftlichen Geräts, das da gerade in der Gegend herum stand, mit Honig einschmierte, und der Bär, das alte Leckermaul, anfing, diese Deichsel, vorne beginnend, abzulecken, um dann immer weiter nach hinten voran zu schreiten, sich dabei die Deichsel durch den ganzen Körper hindurch stoßend, bis sie wieder hinten heraus kam, worauf ihm Münchhausen ein Zurückgehen verunmöglichte, indem er einen Pflock durch die Deichsel hämmerte – dennoch habe ich also bei dieser Erzählung als gestandenes Mannsbild leer schlucken müssen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mich dieser Bericht als Kind irgendwie auch nur im Geringsten beunruhigt hätte. (Vielleicht liegt es auch daran, dass in der neuen Büchergilden-Edition genau diese Szene mit einem Holzstich von Doré illustriert ist, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt.)

Das Buch einer Textsorte zuzuordnen ist schwierig. Einige Geschichten zeugen von überbordender Phantasie und gehören eindeutig ins phantastische Genre – so, wenn Münchhausen in seinem Leben zwei Mal auf dem Mond gewesen sein will. Andere parodieren eher Reales – so, wenn Münchhausen angebliche Erlebnisse erzählt, die er als Teilnehmer am Russisch-Türkischen Krieg von 1768-1774 auf der russischen Seite durchgemacht haben will, oder jene Taten, die er nach seiner Gefangennahme in eben diesem Krieg und als Sklave am Hof des Sultans vollbracht haben will. Das ist Plautus‘ Miles gloriosus – und zugleich eine Parodie auf ihn. Denn, wenn Münchhausen lügt, dann weiß er nicht nur, dass er lügt, er weiß auch, warum er lügt. Und zwar keineswegs, um sich irgendwelche Vorteile irgendwo zu ergattern. Im Gegenteil: Nachdem sich seine Hoffnungen auf eine Karriere in russischem Dienst zerschlagen hatten, weil sein direkter Gönner am Zarenhof in Ungnade fiel, verlebte Münchhausen den Rest seines Leben als typischer Landjunker in Deutschland. Die Jagd, das Essen und die (mehr oder weniger) gepflegten Gesellschaften mit jenen Nachbarn, die man als Freiherr überhaupt kennen durfte, und in diesen Gesellschaften dann die Verpflichtung, sich und andere zu amüsieren – selbst wenn nicht alle Erzählungen zu 100% der Wahrheit entsprechen. Das wussten und akzeptierten auch die Zuhörer an jenen lustigen Abenden: Es war höchst unwahrscheinlich, dass ein kleiner Freiherr aus unbedeutendem deutschen Geschlecht mit der Regentin Maria-Theresia quasi auf Duz-Fuß stand, dass er – durchs Erdinnere gerutscht – plötzlich in der Südsee auftauchte und mit Captain Cook oder Buffon konversierte, dass er auch mit dem russischen Zarenhof auf intimsten Fuß gelebt hatte, oder dass sein Vater William Shakespeare vor den Verfolgungen seines Nachbarn gerettet hatte, weil dieser Vater wiederum mit Elisabeth I. gut stand. Alles höchst unwahrscheinlich. Und sein Publikum wusste es. Weiß es bis heute. Und weil Münchhausen vom nicht mehr so ganz horazischen, weil von der Aufklärung umgedeuteten, prodesse et delectare nur das delectare beibehält, ist er nun, im Ausgang der Aufklärung, plötzlich zum Anti-Aufklärer geworden. Er ist (literarisch) der zum Rebell gewordene Spießer. Dabei verfolgt er weder explizit noch implizit ein literarisches oder gar politisches Programm. Er kümmert sich, wenn er seine Anekdoten erzählt, in Tat und Wahrheit den Teufel darum, welcher Weltanschauung und welcher Zeit er oder seine Zuhörer / Leser denn nun angehören könnten oder sollten. Sein ganzes Credo lautet im Grunde genommen: Ein bisschen Spaß muss sein.

À propos Spaß: Bei der vorliegenden Ausgabe müssen wir auf jeden Fall auch einen Blick auf die Illustrationen werfen. Gustave Doré war einer der ganz großen Maler und Zeichner des französischen 19. Jahrhunderts. Er konnte im Laufe seines Lebens Editionen von Werken der ganz Berühmten illustrieren: Rabelais, Balzac, Lord Byron, Milton, Cervantes, Edgar Allan Poe – nicht zu vergessen seine Bibel-Illustration von 1866. Bürgers Münchhausen ist meines Wissens darunter der einzige deutschsprachige Text. So, wie Münchhausen selber sich und die Literatur parodierte, so karikierte Doré seinerseits den deutschen Freiherrn: leicht übertreibend, aber liebevoll. Sein Münchhausen mit Perücke, Knebelbart und überdimensionaler Hakennase hat das Bild des Freiherrn weltweit geprägt. Die Illustrationen sind schwarz-weiß, aber man kann sich die feuerroten Bäckchen in diesem Gesicht förmlich vorstellen. Dabei hält er sich mit seinen Bildern eng an die Geschehnisse im literarischen Vorbild. Münchhausen übertreibt schon genug, da muss sein Illustrator nicht auch noch übertreiben, scheint er sich gesagt zu haben. Und eines rechne ich ihm (oder zumindest meiner Edition – sie bringt nicht alle Holzstiche, die Doré für den Text angefertigt hat) hoch an: Das im deutschen Sprachraum ikonisch gewordene Bild eines Münchhausen, der auf einer Kanonenkugel reitet, fehlt beim Franzosen. Es hat sich im deutschen Sprachraum den Köpfen eingeprägt durch ein Standbild des Films aus dem Jahr 1943 – und dies, obwohl die dahinter stehende Geschichte selbst in der Mikro-Welt von Münchhausens Anekdoten-Sammlung ein winzig kleines Detail aus der Belagerung Konstantinopels darstellt. Ein winzig kleines Detail, in dem der Erzähler im Grunde genommen gar nicht mal so gut weg kommt. Es geht darum, dass die belagernden Russen keine Möglichkeit haben, die tatsächlichen Verhältnisse in der belagerten türkischen Stadt zu rekognoszieren. Münchhausen, ohne viel nachzudenken, setzt sich auf eine gerade in diesem Moment abgeschossene Kanonenkugel und reist durch die Luft in Richtung Konstantinopel. Unterwegs fällt ihm aber ein, dass das eine dumme Idee gewesen sein könnte – denn: Wie soll er wieder zurückkommen? Zu seinem Glück kommt ihm gerade eine Kugel entgegen, und er wechselt Gefährt und Richtung. Er kommt heil zurück in sein Lager und sein ursprüngliches Reisegefährt tötet in Konstantinopel sogar noch ein paar Feinde, dennoch muss auch Münchhausen zugeben, dass diese Reise nichts gebracht hat. Doré (oder den Herausgebern meiner Ausgabe) war diese Geschichte offenbar zu wenig wichtig, als dass sie hätte illustriert werden müssen – und ich muss ihnen Recht geben.

Alles in allem amüsante Geschichten mit amüsanten Illustrationen. Empfehlenswert, wenn man sich den Kopf etwas lüften will.


Des Freiherrn von Münchhausen wunderbare Reisen und Abenteuer. Nacherzählt von Gottfried August Bürger, mit Holzstichen von Gustave Doré und einem Nachwort von Rainald Grebe. Frankfurt am Main, Wien, Zürich: Büchergilde Gutenberg, 2020. [Die Erstausgabe erschien 1954 in der Büchergilde Gutenberg Zürich.]

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