Still und leise hat der Wallstein Verlag letztes Jahr mit dem vorliegenden Band eine neue Raabe-Werkausgabe angefangen. Sie wird als kritisch kommentiert angezeigt. Nun weiß ich allerdings nicht genau, was damit gemeint sein könnte. Ich vermute, es sind die recht ausführlichen, oft ins Literaturkritische (besser: Literaturwissenschaftliche) ausholenden Anmerkungen des Herausgebers Moritz Baßler gemeint. Eine eigentliche kritische Ausgabe ist es tatsächlich nicht, denn Baßler gibt in seinem Nachwort selber zu, dass er Raabes Handschrift nicht konsultiert habe; allerdings gibt es dennoch Änderungen gegenüber der großen Braunschweiger Ausgabe. Da ich letztere nicht besitze und auch gerade in keiner Bibliothek nachschlagen kann, lasse ich das mal so stehen. Ein Editionsplan existiert offenbar (noch?) nicht; als nächster Band mit der gleichen Ausstattung ist für Juni 2024 Der Lar angekündigt. Mehr wissen wir nicht.
Wilhelm Raabe war zu seinen Lebzeiten ein recht erfolgreicher Autor; immerhin konnte er als einer der ersten deutschen Autoren nur mit dem Schreiben von Romanen und Erzählungen sich und seine Familie ernähren. Das bedingte allerdings, dass er regelmäßig etwas veröffentlichte, was wiederum die natürliche Konsequenz hat, dass nicht alles aus seiner Feder wirklich gute Literatur ist. Lange Zeit galten Der Hungerpastor von 1864 und Abu Telfan von 1867 als Raabes Meisterwerke – und vielleicht ist das der Grund, warum er spätestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als prätentiöser Langweiler und Antisemit in Vergessenheit geriet. Nicht jeder konnte das Glück haben und wie ich bei Killy in einer Vorlesung zu den großen Romanen des 19. Jahrhunderts auf Raabes Die Akten des Vogelsangs hingewiesen werden. Heute ist es – jedenfalls unter denen, die Raabe kennen und loben – ein Allgemeinplatz geworden, vor allem Raabes Alterswerk hervorzuheben. Man kann sich darüber lustig machen (man hat sich darüber lustig gemacht), aber ich finde es durchaus legitim, große Werke der Weltliteratur wie Stopfkuchen, Die Akten des Vogelsangs oder Altershausen auch entsprechend zu würdigen.
Fabian und Sebastian nun ist, mit der Genre-Bezeichnung Eine Erzählung, 1882 erschienen. Sechs Jahre zuvor war mit Horacker eine andere Erzählung erschienen. Der Anfang nun von Fabian und Sebastian erinnert sehr an den des Horacker: Der Erzähler setzt sehr gemütlich ein, etwas humoristisch und schrullig, aber doch idyllisch. Doch wie bei Horacker ist die Idylle nur dünne Firnis, die weit dunklere und unheimliche Seiten der geschilderten Gesellschaft übertünchen will. Sechs Jahre nach Horacker sind die Risse in der gutbürgerlichen Gesellschaft noch tiefer geworden; und wenn auch noch kein Mord übertüncht wird wie in Stopfkuchen, so sind wir hier nicht mehr weit von diesem Alterswerk entfernt.
Die Titelhelden der Erzählung, Fabian und Sebastian, sind zwei Brüder. Ihnen gehört die Schokoladenfabrik Pelzmann, die mitten in einer nicht genannten (aber als Stuttgart identifizierbaren) Stadt produziert. Die beiden Brüder verstehen sich so gar nicht und hausen in strikt getrennten Teilen der Wohnräume, die zur Fabrik gehören. Sebastian ist, was wir heute bei Opernhäusern oder Kunstmuseen den kaufmännischen Direktor nennen würden – der Zahlenmensch, der die Fabrik fest im Griff hat und als erster Principal gilt, obwohl er der Jüngere ist. Fabian stellt den künstlerischen Direktor vor; er ist es, der jeweils auf die Weihnachtszeit hin die Figuren entwirft, die dann in der Fabrik mit Schokolade ausgegossen und das Produkt in einem eigenen Laden verkauft wird. Wegen dieser seiner Tätigkeit wird Fabian von den Leuten auch der Attrapenonkel genannt – und man schreibe das bitte wie Raabe mit einem ‚p‘, denn dahinter steht (auch für Raabe) das französische Wort ‚attrape‘ = ‚Scherzartikel‘. Fabian ist derjenige des Brüderpaars, der nicht ernst genommen wird – ein menschlicher Scherzartikel, sozusagen. Mit der ‚Attrappe‘ als einer Imitation, die nur zum Schein hingestellt wird, hat Fabian keine Ähnlichkeit. (Frankreich als das Land, in dem Fabian und und sein Faktotum Knövenagel die Nichte abholen, spielt auch zehn Jahre nach dem Deutsch-Französischen Krieg immer noch ins tägliche Leben der Brüder und der ganzen Stadt hinein, aber diesen Aspekt der Erzählung lasse ich hier mal weg, ebenso wie die kolonialistischen Aspekte.)
Das ganze seltsame Arrangement der Brüder hat eine Vorgeschichte, die im Laufe der Erzählung ans Tageslicht treten wird. Als Katalysator dient dabei Constanze, die verwaiste Tochter eines dritten Bruders, der als niederländischer Leutnant auf Sumatra am Tropenfieber gestorben ist. Ihre aus Sumatra stammende Mutter ist schon länger tot, also kommt sie zu ihren beiden Onkeln. Sebastian wollte sie sofort in ein Internat stecken, aber für einmal hat sich Fabian durchgesetzt und nimmt Constanze bei sich auf.
Constanze nun ist eine sehr seltsame Figur. Einerseits dient sie – und deswegen möchte ich sie gerne die „edle Wildin“ der Geschichte nennen – als Auge des Erzählers, durch das hindurch er auf die großen Unterschiede der verschiedenen gesellschaftlichen Schichten jener Zeit blicken kann: Sie ist es, die ihren Gesprächspartner Knövenagel (ich komme noch auf ihn) auf die nach ihrer Mittagspause auf Einlass wartenden, frierenden jungen Frauen hinweist, während sie selber in einem auf Geheiß ihres Onkels völlig überheizten Zimmer steht. Auf der anderen Seite ist sie die am wenigsten gelungene Figur der Erzählung. Im Grunde genommen ist sie Raabe sogar völlig misslungen. Sie bleibt – von Aufwallungen des Mitleids abgesehen – farblos. Drei Mal erscheint sie gegen den Willen ihrer Onkel und ihres Arztes an Orten, an denen sie nichts verloren hat. Drei Mal erzielt sie damit eine kathartische Wirkung. Leider aber tut sie dies drei Mal in einer Art somnambulen Zustand und im Grunde genommen als Imago / Doppelgängerin / Wiedergängerin einer anderen Frau – mit anderen Worten: Raabe greift bei ihr auf schlimmste Allgemeinplätze der Romantik zurück. Ansonsten ist das Mädchen für ihr Alter ausgesprochen ruhig; sie scheint mit dem kleinen Kämmerchen im Dachstock bei ihrem Attrapenonkel völlig zufrieden zu sein, ein kleiner Ausflug im Frühsommer aufs Land genügt ihr, um glücklich zu sein. Spielen, Toben? Fehlanzeige. Im Grunde genommen ist Constanze die Attrappe, die vom Autor einfach mal so hingestellt worden ist, ohne zum Leben erweckt zu werden.
Anders ist da Knövenagel. Moritz Baßler weist in seinem Nachwort auf die wichtige Rolle dieses Mannes hin. Er erscheint zunächst als eine Quasselstrippe, der auch ungeniert seinem Herrn, dem Attrapenonkel, ins Wort fällt und ihn sogar korrigiert. Dazu weist er die typische Eigenschaft der komischen Figur aus dem niederen Volk auf, Fremdwörter (in seinem Fall viele französische Ausdrücke) zu verdrehen und falsch anzuwenden. Bei genauer Lektüre aber zeigt sich, dass Knövenagel, viel mehr noch als Constanze, die diese Funktion rein mechanisch ausübt, derjenige ist, der als Katalysator die Geschichte vorantreibt und zu einem Happy Ending führt. Sagen wir besser: zu einem relativen Happy Ending, denn anders als noch sechs Jahre zuvor im Horacker will hier keine Reparatur mehr gelingen, keine vollständige Rückkehr zum status quo ante. Die Risse in der Firnis haben sich als zu tief erwiesen. Knövenagel und das nur versuchsweise positive Ende machen, dass diese Erzählung zwar nicht zu einer der ganz großen Raabes gehört, aber doch verdientermaßen eine neue Ausgabe seiner Werke anführt, denn sie hat ihre Verdienste.
PS – noch ein kulturgeschichtlicher Anhang. Ich stelle dies an einem Ostersonntag im Blog ein. Die für die vordere Umschlagseite verwendete Fotografie von Michaela Berkhauer zeigt ein Gestell voller Gussformen für Schoko-Osterhasen und -Eier. In Raabes Erzählung spielt aber das Osterfest absolut keine Rolle. Es ist das Weihnachtsfest, auf das hin der Attrapenonkel jedes Jahr neue Figuren ausdenkt. (Oder eben nicht, denn in der Erzählung wird er eine schöpferische Blockade erleiden.) Offenbar hatte sich die Schokoladenindustrie zumindest zu Beginn der 1880er Jahre den Osterhasen noch nicht unter den Nagel gerissen …
Wilhelm Raabe: Fabian und Sebastian. Eine Erzählung. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Moritz Baßler. O.O.: Wallstein Verlag, o.J. [muss aber 2023 gewesen sein] (= Wilhelm Raabe: Werke. Kritisch kommentierte Ausgabe. Herausgegeben von Moritz Baßler, Andreas Blödorn und Rolf Parr)