Joachim Ringelnatz kennen alle, aber kennen alle Joachim Ringelnatz? Damit meine ich nicht die hinter dem Pseudonym „Joachim Ringelnatz“ steckende Person des Hans Gustav Bötticher noch überhaupt das Privatleben dieses Mannes. Ich meine Folgendes: Mir jedenfalls geht es seit Jahren so, dass ich immer mal wieder an diesen Lyriker und seine Gedichte erinnert werde, auch immer mal wieder eines oder zwei seiner Gedichte gelesen habe, und selbstverständlich sind mir die Namen sowohl von Ringelnatz wie von Kuttel Daddeldu bekannt. In den Tiefen meiner Regale schlummert seit Jahren eine Auswahl aus seinen Gedichten, aber für dieses Aperçu habe ich auf eine andere, in einem offenen Bücherschrank gefundene, zurückgegriffen, weil die erste einfach nicht auffindbar ist. Abgesehen davon, muss ich immer aufpassen, Ringelnatz nicht mit Klabund zu verwechseln – so unähnlich sich die beiden immer sind. Beide ziemlich genau dieselbe Epoche, beide Autoren, von deren Existenz ich seit Jahrzehnten weiß, ohne je Substanzielles von ihnen gelesen zu haben.
Nun habe ich also zum ersten Mal mehr als nur ein oder zwei Gedichte von Ringelnatz gelesen sondern gleich den ganzen, mir dem Namen nach schon lange bekannten, weil ebenfalls seit Jahrzehnten in meinem Langzeitgedächtnis herumlungernden Kuttel Daddeldu.
Es handelt sich hierbei um humoristische Gedichte aus dem Leben des fiktiven Seemanns Kuttel Daddeldu, die Ringelnatz oft seiner Hauptfigur in den Mund legt. Er mischt die deutsche Grundsprache seines Seemanns mit nur halb verstandenen und nur halb richtig ausgesprochenen (bzw. geschriebenen – aber Kuttel Daddeldu ergreift in diesen Gedichten sehr, sehr oft das Wort gleich selber) fremdsprachigen (meist englischen bzw. US-amerikanischen) Wörtern. Wie weit Kuttel Daddeldus Sprache Kunstsprache ist, wie weit sie tatsächlichem Seemanns-Slang der Epoche entspricht, kann ich nicht sagen. Ich denke aber, man sollte Ringelnatz’ linguistisch-künstlerische Fähigkeiten nicht unterschätzen.
Kuttel Daddeldu ist der Seemann, wie er im Buche steht. Ob Ringelnatz auf bestehende Stereotype zurückgegriffen hat, weiß ich nicht, halte es aber für wahrscheinlich. Aber auf jeden Fall hat er das Stereotyp des Seemanns wohl für den Rest des 21. Jahrhunderts entscheidend mitgeprägt. Auf Landgang trinken Kuttel Daddeldu und seine Freunde hochprozentigen Alkohol in Massen und liegen dann auch schon mal sturzbesoffen in der Gosse. Kuttel Daddeldu hat zwar eine Verlobte und bringt ihr auch pflichtbewusst jedes Mal ein Geschenk von seiner Reise mit. Aber schon nach ein paar Gläsern vom Hochprozentigen kann er sich nicht mehr so genau an ihren Namen erinnern. Ja, so bald sein Schiff in einem Hafen angelegt hat, stellen nicht nur die dort zu findenden Kneipen eine Hauptattraktion für ihn dar. Unwiderstehlich fühlen er und seine Freunde sich auch von den Hafenbordellen angezogen. Und so findet sich das eigentlich für seine Verlobte gedachte Geschenk irgendwann bei einer der dortigen Frauen wieder. Das klingt komisch und wird auch mit viel Humor geschildert. Dennoch merkt man bei genauem Lesen, dass auch Gewalt und Tod Konstanten sind im Leben dieser Seeleute, und ihre Exzesse auch nur ihre Art, sich dennoch des Lebens zu erfreuen.
Mit dieser seiner humorvollen, aber genauen Schilderung dieses (wie Marx gesagt hätte) Lumpenproletariats stellt sich Ringelnatz in eine Reihe mit der Darstellung derselben Schicht am andern Ende der Welt, die John Steinbeck in seinen Storys über die Armen von Monterey nur kurze Zeit nach dem Deutschen liefern sollte. Ich denke allerdings nicht, dass Steinbeck von Ringelnatz wusste.
Viele seiner Gedichte hat Ringelnatz selber im Kabarett vorgetragen. Kein Wunder demnach, erinnern der Sprachduktus und die Wortschöpfungen in Kuttel Daddeldu an den gleichzeitig zu Ringelnatz’ Kunstfigur blühenden Dadaismus – mehr noch, finde ich, als an den in Zusammenhang mit Ringelnatz meistens genannten Expressionismus. (Wobei die beiden literarischen Strömungen ja eine Art zweieiiger Zwillinge sind.)
Eine vermeintlich leichte Lektüre, die dennoch zum Nachdenken anregt. Ich bin froh, mich endlich etwas intensiver mit Joachim Ringelnatz und Kuttel Daddeldu auseinandergesetzt zu haben.