I. Bernard Cohen: A Guide to Newton’s Principia Mathematica

Auf schwarzem Hintergrund silberne und blaue Kreise über- und durcheinander gezeichnet. Das Ganze wirkt wie eine schematische Darstellung eines ungeheuer komplizierten Systems von Sonnen, Planeten und Monden. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Der US-amerikanische Wissenschaftshistoriker I. Bernard Cohen (1914-2003) hat nicht nur (zusammen mit Anne Whitman) Isaac Newtons Philosophiæ Naturalis Principia Mathematica (kurz: Principia Mathematica) übersetzt – eine Arbeit, die die beiden über rund 14 Jahre beschäftigt hat. Er galt als Spezialist für Newton und Franklin und hat so auch den vorliegenden Guide zu den Principia Mathematica verfasst. Führer, Handbuch, Gebrauchsanleitung. Auf rund 360 Seiten bietet er darin eine äußerst wertvolle wissenschaftsgeschichtliche Einführung in Newtons Monumentalwerk.

Meines Wissens ist dieser Guide nie auf Deutsch erschienen, und das hat durchaus einen Grund. Cohen wird sich nämlich immer wieder dazu äußern, wie seine Kollegin und er das wissenschaftliche Neulatein des 17. Jahrhunderts ins Englische des 20. Jahrhunderts übersetzten, ohne dass daraus ein physikalisches Werk des 20. Jahrhunderts wurde, weil zu viel angepasst wurde, aber dennoch so geschrieben ist, dass das heutige Publikum (ob vom Fach oder fachfremd) die dahinter stehenden Konzepte wirklich versteht. Die meisten der dabei diskutierten Probleme lassen sich nicht 1:1 auf eine deutsche Übersetzung übertragen, zumal Cohen auch immer Bezug nimmt auf die einzige Komplett-Übersetzung, die vor der ihren ausgeführt wurde und von einem Zeitgenossen Newtons stammte, der viel Fachliches in Rücksprache mit Newton formulierte. Andererseits sind Hinweise darauf, wie Newton zum Beispiel mathematische Formeln ganz anders darstellt, als es die moderne Mathematik tut, dann doch wieder interessant. (So kannte Newton zwar die Notation A2 für ‚A hoch zwei‘, ‚A im Quadrat‘ ebenfalls, weit öfters aber schrieb er 2A, AA und anderes. Hier, ebenso wie zum Beispiel bei den verwendeten Integralen, haben die beiden Übersetzenden die Schreibung normalisiert und modernisiert.)

Daneben aber erfahren wir auch einiges zur Entstehungsgeschichte, welche Rolle Halley und Hooke dabei spielten und warum der Name Hookes in den ganzen Principia Mathematica kein einziges Mal fällt, der von Leibniz von Ausgabe zu Ausgabe immer spärlicher erscheint. Cohen korrigiert auch Hookes Anspruch, Newton die Mathematik zur Berechnung der Planetenbahnen mitgeteilt zu haben, dahingehend, dass er ‚nur‘ darauf Anspruch erheben kann, Newton vom Irrweg abgebracht zu haben, dass hinter den Planetenbahnen eine zentrifugale Kraft stehe, und er nunmehr eine zentripetale (nämlich die Schwerkraft) gestellt habe. Im Streit um die Priorität bei der Entdeckung der Infinitesimalrechnung hält Cohen fest, dass Newton und Leibniz wohl unabhängig von einander auf dieses Konzept gestoßen sind. Im Übrigen zeigte sich in beiden Fällen der problematische, weil sehr nachtragende Charakter Newtons, der sogar drohte, den dritten Band der Principia Mathematica nicht mehr zu veröffentlichen, wenn die beiden nicht auf ihre Ansprüche verzichteten. (Dass er hingegen mit seinen Plagiats-Vorwürfen Leibniz’ Karriere zerstört haben soll, kann ich an Hand der mir bekannten Daten aus dem Leben des Deutschen nicht nachvollziehen.)

Cohen liefert auch einen Aufriss der Struktur eines jeden Buchs, so, dass man Newtons Argumenten besser folgen kann. Auch das hat seine Meriten. Am meisten profitiert habe ich persönlich von seiner Analyse des berühmten letzten Scholium mit seinem Satz Hypotheses non fingo. An Hand erst in den 1960ern aufgefundener Schriften Newtons weist Cohen nach, dass der Geist, den nicht als Hypothese einzuführen er hier aussagt, nicht etwa Gott der Allbeweger ist, wie ich in meinem Aperçu zu den Principia Mathematica geschrieben habe. (Ich bin da allerdings in bester Gesellschaft. Auch Ernst Mach scheint das ähnlich interpretiert zu haben, wenn er Newton den ersten Positivisten nannte.) Viel mehr, so Cohen, ging dem berühmten Satz eine Diskussion der kürzlich entdeckten Elektrizität voran, die Newton in einigen Entwürfen zu diesem Schluss-Abschnitt tentativ mit der Schwerkraft gleich setzte, dann offenbar mangels präziser Information auf diese explizite Gleichsetzung verzichtete, aber den interpretationsbedürftigen Satz mit dem alles durchdringenden Geist stehen ließ.

Summa summarum: Für alle, die des Englischen mächtig und an Newtons Principia Mathematica interessiert sind, ist Cohens Guide absolut empfehlenswert.


I. Bernard Cohen: A Guide to Newton’s Principia Mathematica. With contributions by Michael Nauenberg and George E. Smith. Introduction by Stephen Hawking. London: Folio Society, 2008.

[Anmerkung 1: Der Text ist wahrscheinlich identisch mit Introduction to Newton’s Principia. Cambridge University Press, Cambridge 1999.]

[Anmerkung 2: Die Einführung von Stephen Hawking stammt aus On the Shoulders of Giants [auf Deutsch Giganten des Wissens, wobei der deutsche Titel die Anspielung auf den berühmten Satz aus einem Brief Newtons an Hooke unterschlägt], liefert aber nicht mehr als einen kurzen Abriss von Newtons Leben und ist keine Hommage eines berühmten Astrophysikers an einen ebenso berühmten Vorgänger oder gar eine wissenschaftlich relevante Einschätzung von dessen Werk.]

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