Marcel Proust: À la recherche du temps perdu V. La prisonnière (1) [Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Die Gefangene]

Schrift "A LA RECHERCHE DU TEMPS PERDU" rot auf beige. Ausschnitt aus Buchcover.

Ausnahmsweise folgt dieses Aperçu in der Reihe zu Prousts Suche nach der verlorenen Zeit etwas rascher auf das vorhergehende, als ich es üblicherweise zu tun pflege. Das hat nichts mit dem Blog und nur wenig mit Proust zu tun, sondern vor allem mit dem, was man so allgemein ‚das richtige Leben‘ nennt. Mit Proust hat es nur insofern zu tun, als ich die Bücher 5 und 6 der Suche (La prisonnière und Albertine disparue) als etwas zäh in Erinnerung hatte und deshalb den Schwung mitnehmen wollte, den ich aus Prousts genialen Schilderungen der Abendgesellschaften im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts mitgenommen hatte.

Tatsächlich unterscheidet sich La prisonnière grundlegend von den bisherigen Büchern. Aus dem Gesellschaftsroman wird ein Kammerspiel mit de facto gerade noch zwei Darstellern: Albertine und dem Ich-Erzähler. Der hat nämlich seine Drohung am Ende von Sodom und Gomorrha wahr gemacht. Um Albertine vor ihren lesbischen Neigungen und ihren lesbischen Freundinnen zu retten, aber auch aus Eifersucht und Liebe (alle diese Motive gehen beim Ich-Erzähler durch- und miteinander) hat er sie aus Balbec nach Paris in die elterliche Wohnung genommen und hält sie dort de facto gefangen. Natürlich hat sie ‚Freigang‘, aber der Ich-Erzähler sorgt dafür, dass sie immer von jemand begleitet wird, der ihm am Ende des Tages oder des Abends rapportiert, wo sie genau waren und was sie genau gemacht haben. Als Aufpassende aber hat er ausgerechnet jene Andrée gewählt, deren Tanz mit Albertine ihn in Balbec zuerst auf die Idee brachte, seine Geliebte könnte aus dem Lager derer von Gomorrha stammen. Der andere Aufpasser aber ist der Chauffeur des Autos, das er schon in Balbec gemietet hatte, und das er auch nun in Paris mietet, damit Albertine etwas herumkommt. Warum er sie nicht selber begleitet, wird nicht ganz klar; wir erfahren nur, dass er offenbar am Morgen sehr lange schläft, wobei ihn Albertine nicht stören darf; auch zunehmende Atemkrämpfe plagen ihn und seine Gesundheit wird immer öfter thematisiert. Ob die beiden überhaupt miteinander schlafen, bleibt jedenfalls ein Rätsel; der Ich-Erzähler drückt sich sehr unklar aus und kann mal so, mal anders verstanden werden.

Liebt er sie überhaupt? Oder sie ihn? Wir erhalten auf beide Fragen keine klare Antwort. Ja, er bombardiert vor allem Mme de Guermantes, aber auch Mme Swann, mit Fragen zu deren Kleidung, um zu erfahren, ob und was er davon für die viel jüngere Albertine kaufen bzw. schneidern lassen kann. Einmal ist sogar die Rede von einer Jacht, die er ihr schenken will. Aber ist das Liebe? Oder ist es Liebe, alle diese Geschenke freudig anzunehmen und sich (mindestens zeitweise) tatsächlich am Leben um den Ich-Erzähler zu erfreuen?

An die Stelle äußerer Erlebnisse treten in Die Gefangene Reflexionen verschiedenster Natur. Einmal zum Beispiel kommt der Ich-Erzähler, als er auf dem Piano in der Wohnung etwas aus einer Sonate von Vinteul spielt, von diesem Komponisten auf Wagner, weil ihn etwas am einen an den anderen erinnert hat (auch wenn er sie als völlig verschieden schildert), und während er nun Wagner spielt, skizziert er in Gedanken eine ganze Musik-, ja Kunsttheorie und Rezeptionsästhetik.

Auch seine Eifersucht und das Verhältnis zwischen ihm und Albertine bietet ihm Stoff für Überlegungen. Die gegenseitige Abhängigkeit der beiden, die er zu sehen glaubt – er als Meister, sie als Unterworfene, die ihn aber als Unterworfene mit ihren Lügen doch wieder meistert – wird in seinen Reflexionen nachgerade zu einer proto-psychologischen Theorie über das Thema von Dominanz und Subordination in sado-masochistischen Beziehungen ausgearbeitet, die weit über das hinaus geht, was er eventuell aus Diderots Jacques der Fatalist und sein Herr gelernt haben kann. (Weder Diderot noch de Sade werden übrigens erwähnt. Kannte er sie überhaupt?)

Daneben finden wir im ersten Teil von La prisonnière zwei Szenen, die für die Suche nach der verlorenen Zeit ikonisch geworden sind:

Da ist die eine, in der der Autor Proust sich von seinem Ich-Erzähler abspaltet (indem er explizit als Autor des Buchs über den Ich-Erzähler redet) und sich gleichzeitig wieder mit ihm identifiziert (indem er Albertine als Vornamen des Ich-Erzählers quasi versuchsweise den Vornamen des Autors verwenden lässt, als er diese aus einem kurzen Schlummer auf dem Bett des Ich-Erzählers neben ihm aufwachen lässt):

L’hésitation du réveil, révélée par son silence, ne l’était pas par son regard. Dès qu’elle retrouvait la parole elle disait : « Mon » ou « Mon chéri » suivis l’un ou l’autre de mon nom de baptême, ce qui, en donnant au narrateur le même nom qu’à l’auteur de ce livre, eût fait : « Mon Marcel « , « Mon chéri Marcel « . Je ne permettais plus dès lors qu’en famille nos parents, en m’appelant aussi « chéri « , ôtassent leur prix d’être uniques aux mots délicieux que me disait Albertine. Tout en me les disant elle faisait une petite moue qu’elle changeait d’elle-même en baiser. Aussi vite qu’elle s’était tout à l’heure endormie, aussi vite elle s’était réveillée.

Die andere war kurz vorher, wo er Albertine am Frühstückstisch mit dem Ich-Erzähler genau so reden lässt, wie diesen selber. Das erfüllt den Erzähler einerseits mit Stolz (schließlich hat er ihr diese gehobene Sprache beigebracht und er hält es auch für ein Zeichen ihrer Liebe zu ihm, dass sie diese nun verwendet), andererseits distanziert er sich sofort davon – so rede er dann doch nicht. Das ist nun also der seltene Fall, dass ein Autor seinen eigenen Stil in dem Buch parodiert, das genau diesen Stil verwendet. Für solche Volten liebe ich Proust.

Ansonsten muss ich zugeben, dass ich beim erneuten Lesen Die Gefangene bedeutend weniger zäh gefunden habe als bei meiner ersten Lektüre. Aber ja: Wir finden wenig Handlung und viele Reflexionen. So etwas muss man mögen. Ich mag es heute offenbar mehr als früher.

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