Paul Celan: Mohn und Gedächtnis

Auf blauem Hintergrund ein in einem anderen Blauton gehaltenes Porträtfoto Paul Celans. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Die Publikationsgeschichte von Mohn und Gedächtnis hängt eng mit dem Auftritt Paul Celans im Jahr 1952 vor der Gruppe 47 zusammen. Das Resultat seiner damaligen Lesung war, gelinde gesagt, durchzogen. Zwar wurde er trotz allem bei der Abstimmung über den Preisträger auf den dritten Platz gesetzt; aber viele der Mitglieder machten sich über Celans eigenwillige Vortragsweise lustig; andere (oder auch dieselben) skandierten noch einige Zeit höhnisch die Worte Schwarze Milch in der Frühe. Es fehlte den meisten Mitgliedern, die dem platten Realismus der Nachkriegszeit verpflichtet waren (der unter dem Namen ‚Trümmerliteratur‘ dann Eingang in die Annalen der Literaturgeschichte fand), an Gespür für die Lyrik Paul Celans, dessen Sprache und Denken stark vom französischen Surrealismus geprägt waren. Auch waren die Themen der Mitglieder der Gruppe 47, die Heimkehr der Soldaten, der Wiederaufbau Deutschlands, bei allem Verständnis für die Trauer und die erlittenen Traumata der Kriegsheimkehrer und der Daheimgebliebenen, im Verhältnis zur Trauer, die Celan zu bewältigen hatte, schon fast nebensächlich. Was der Gruppe 47 damals wohl nicht klar war: Nicht irgendeinen einzelnen oder auch eine Gruppe von Heimkehrern musste Celan betrauern – er hatte mehr als sechs Millionen Verschleppte und Umgebrachte zu bewältigen. Unverständnis auf beiden Seiten war vorprogrammiert.

Dennoch hatte diese missglückte Lesung auch ihr Gutes. Der damalige Chef-Lektor der Deutschen Verlags-Anstalt, offenbar mit besserem literarischem Verständnis ausgestattet als alle die Schriftsteller:innen der Gruppe 47, kam auf Celan zu und bot ihm an, einen Band mit seinen Gedichten herauszugeben. Die Sitzung fand im Mai statt; noch im Dezember des gleichen Jahres wurde Mohn und Gedächtnis veröffentlicht. Heute gilt das schmale Büchlein als einer der wichtigsten Lyrikbände deutscher Sprache und wird immer wieder aufgelegt.

In der Gedichtsammlung sind drei kleinere Zyklen zusammengefasst, sowie, als Einzelstück, die Todesfuge, jenes Gedicht, das mit Schwarze Milch in der Frühe anhebt und in dem Celan seiner Trauer um die sechs Millionen Juden Ausdruck gibt, seinem Willen (oder auch Widerwillen) trotzdem weiterzumachen, auch den Deutschen zu verzeihen. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland, aber unter seinen Opfern ist die Sulamith ebenso wie die Margarete. (Celan wusste sehr wohl, dass die Frauen noch mehr zu leiden hatten als die Männer.)

Dichotomien, oder besser: Spannungen zwischen zwei Polen, die nicht zusammen geführt werden können, aber ausgehalten werden müssen, durchziehen diese Gedichte Celans wie ein roter Faden. Auch der Titel der Sammlung, Mohn und Gedächtnis enthält eine solche. Er stammt aus dem Gedicht Corona (kein Zusammenhang mit dem neulich aufgetretenen Virus). Das Gedicht ist Ingeborg Bachmann gewidmet, deren Geliebter er zur Zeit der Abfassung war. Die ganz Zeile lautet:

wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis

und ich gehe einmal davon aus, dass sie der Mohn und er das Gedächtnis war. Er, der die Trauer und das Erinnern weitertragen musste, sie, die die Beruhigung sein konnte, oder auch die Anregung. Selbst in der Liebe gilt es bei Celan, Spannungen auszuhalten.

Ich habe die Gedichte gelesen in einer alten Ausgabe des Suhrkamp-Verlags (suhrkamp taschenbuch 231, 2. Auflage von 1976), die meines Wissens aktuell nicht mehr Buchhandel erhältlich ist. Diese Ausgabe hat mich seit bald 50 Jahren begleitet und mein Bild von dem, was deutsche Lyrik sein kann, maßgebend geprägt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert