Käthe Löwenthal kam 1923 als jüngstes Kind des Bielefelder Architekten Paul Löwenthal und dessen Frau Selma zur Welt. Sie hatte zwei ältere Schwestern, Lise (*1922) und Anne (*1921). Diese waren also nur wenig älter, was offenbar dazu führte, dass sich Käthe immer in einer Art Wettbewerb mit den beiden sah – einem Wettbewerb, den sie ihrer Ansicht nach (meistens) verlor, weshalb sich in ihr ein permanenter Minderwertigkeitskomplex festfraß, der nun auch den Titel ihrer Autobiografie bestimmt: Sie fühlte sich als ein minderes Kind. (In diesem Wettbewerb ging es vor allem um Aufmerksamkeit und Liebe – durch die Schwestern, durch die Eltern, die Lehrer und später natürlich die Jungs.)
Paul Löwenthal stammte ursprünglich aus dem Osten Deutschlands und war – ich weiß nicht, durch welchen Zufall, nach dem Ersten Weltkrieg als Verwundeter und mit dem Eisernen Kreuz Ausgezeichneter nach Bielefeld gekommen. Sein stattliches Aussehen erregte rasch die Neugier der jungen Frauen – Selma, die Tochter eines gut situierten und auch in der jüdischen Gemeinschaft Bielefelds hoch geachteten Mannes, vermochte schließlich Paul zu erobern. Die Ehe muss nicht lange glücklich gewesen sein, was Karen Gershon vor allem darauf zurückführt, dass einerseits Käthes Mutter sehr in die Breite zu wachsen begann, andererseits ihr Vater auch als verheirateter Mann gerne anderen Frauen nachschaute und mit ihnen flirtete. Außerdem war er aus eher rustikalem Holz geschnitzt – während Selma kulturell interessiert war, gern ins Theater ging und in Konzerte, war es das liebste Hobby ihres Mannes, abends noch mit Freunden zusammen zu sitzen, laut zu reden und die Zeit zu vergessen. (So kam es oft vor, dass er seine Familie gänzlich vergaß, die unterdessen zu Hause mit dem Essen auf ihn wartete.) Seine künstlerische Ader lebte er als Architekt aus – und als Hobbyfotograf. (So stammen die Bilder der jungen Familie, die im Buch enthalten sind, wohl von ihm.) Bei so unterschiedlichen Charakteren ihrer Eltern war es dann auch für Käthe fast unmöglich, gleichzeitig Liebe und Aufmerksamkeit beider erringen zu können. Vor allem vom Vater fühlte sie sich vernachlässigt, selbst wenn sie krank war (und das war sie als kleines Kind des öfteren, weil ihr das natürlich Aufmerksamkeit sicherte), kümmerte sich ihr Vater kaum um sie. (Noch ganz am Ende der Autobiografie wird sie es ihm vorwerfen, dass er sich zwar bei ihrer Abreise nach England mit dem Zug als einziger Jude auf den Bahnsteig schmuggeln konnte, dort aber den anderen Kindern beim Einsteigen half – statt sich um sie zu kümmern, die ihn in diesem Moment so nötig gehabt hätte.) Die erwachende Sexualität – inklusive der damals obligatorischen mangelnden Aufklärung darüber – machte das Leben des liebesbedürftigen Mädchens auch nicht einfacher. Sich als ungenügend empfindend, floh sie schon früh in ihre Phantasie, schrieb Gedichte und kleine Prosatexte. Sie begann damit, dass sie zu bestehenden Gedichten neue Strophen erfand – einmal so gut, dass ihre Mutter vergebens in ihrer Heine-Ausgabe nach der entsprechenden Strophe fahndete.
Wir sehen: Käthes Leben wäre auch so kompliziert genug verlaufen. Zusätzlich wuchs sie aber in den 1920ern und 1930ern in einer deutschen Familie jüdischen Glaubens auf. So jedenfalls hätte wohl Paul Löwenthal, wenn er darüber nachgedacht hätte, seine Situation beschrieben: Wie so viele Juden vor 1933 fühlten sich auch die Löwenthals zunächst als Deutsche, dann erst als Juden. Die jüdische Gemeinschaft in Bielefeld hing zu jener Zeit einem Reform-Judentum an: Es gab farbige Fenster in der Synagoge und bei den 12-jährigen Mädchen wurde eine Bat Mitzwa gefeiert. Erst als die Nationalsozialisten an die Macht kamen und die Schikanierung der Juden immer umfassender wurde, griffen Zionismus und orthodoxes Judentum auch in Bielefeld um sich. Diese zunehmende Diskriminierung der Juden spielte also schon früh in Käthes Leben hinein. Da das Leben in Deutschland zusehends unerträglicher wurde, rutschte auch sie in die Orthodoxie, legte zu Hause, bei den liberaleren Eltern, Wert auf die Einhaltung alter jüdischer Sitten und Gebräuche – ja, zu guter Letzt besuchte sie ein Trainings-Camp der Zionisten, mit dem diese junge Menschen suchten, die nach Palästina auswandern und dort in einem Kibbuz das Terrain für die Ankunft weiterer Juden vorbereiten sollten. Diese ihre Pläne scheiterten daran, dass mit dem Erlass der so genannten Nürnberger Gesetze die prekäre Situation der Juden in Deutschland so eklatant klar wurde, dass sich verschiedene Staaten bereit erklärten, wenigstens jüdische Kinder aufzunehmen. Käthe und Lise fanden einen Platz in einem dieser Kindertransporte. Anne war bereits zu alt dafür, reiste aber auf eigene Faust nach England – was wiederum dazu führte, dass Käthe und Lise, ursprünglich für einen Transport in die Niederlande vorgesehen, von wo sie dann bei nächster Gelegenheit nach Palästina weiterreisen wollten, durch die Beziehungen ihrer Mutter ebenfalls in den Zug nach England kamen. Was Käthe das Leben rettete. Ihre Eltern wurden später nach Riga deportiert, wo Paul (wohl an seiner Herzkrankheit) starb, während Selma vermutlich später im KZ Auschwitz ermordet wurde. Anders als Lise kam Käthe erst viel später nach Israel (wie der Staat dann schon hieß). Zunächst blieb sie in England, änderte ihren Namen in Karen Gershon und wurde Schriftstellerin.
So weit die Fakten. Nun zum Buch. Karen Gershon schreibt über sich selber in der dritten Person, weil sie nur so die emotionale Distanz aufzubringen vermochte, um das Buch überhaupt zu schreiben. Dennoch (oder deswegen?) bleibt sie nahe an ihrem damaligen Ich. Selten holt die Autorin aus und fügt späteres Wissen ins Geschehen ein, meist erfahren wir nur, was Käthe im Moment selber erlebt. Karen Gershon muss ein ungeheuer präzises Gedächtnis gehabt haben, was ihre Kindheit betrifft, wenn man von der riesigen Summe an Details ausgeht, die sie uns schildert. Dadurch, dass sie immer nahe am gerade aktuellen Wissens- und Gefühlsstand von Käthe bleibt, erleben wir auch immer eine Mischung von privaten und politischen Fakten. Auf diese Weise wird erschütternd klar, wie der Nationalsozialismus mehr und mehr ins Leben der deutschen Juden eingriff – und ins Leben der Deutschen selber: Immer mehr Nachbarn wandten sich von der jüdischen Familie Löwenthal ab; zu den ‚offizielle‘ Sanktionen und Schikanen kamen immer mehr private, Beschimpfungen durch Nachbarn und Fremde, Verbot für die jüdischen Kinder im Hinterhof zu spielen etc. etc. (Ironie der Geschichte: Dass sie sich als Jüdin zu erkennen gab, rettete Käthe einmal vor der Vergewaltigung durch einen Arier (wie Gershon diese Leute konsequent nennt), der sich nicht mit einer Jüdin beschmutzen wollte. Es gab, wie wir wissen, wenig Vergewaltigungen und sexuelle Belästigungen in den KZs – mit „Untermenschen“ lässt der Arier sich so wenig ein wie mit einem Orang Utan …) Von Deutschen, die – und sei es nur im Geheimen – Widerstand leisten würden, hat Käthe zumindest offenbar nichts erfahren.
Gerade durch den nüchternen Erzählton wird die Geschichte dieses Kindes beängstigend. Das langsame Einschleichen von nationalsozialistischem Gedankengut, die Verformung des Judentums lange bevor ihnen systematisch körperlich Gewalt angetan wurde, die zunehmende Angst und die Sorg- und Gedankenlosigkeit, mit der die Arier sich ihre neuen Freiheiten gegenüber den Juden herausnahmen – es ist ein düsteres Menschenbild, das Karen Gershon uns aufzeigt. Selbst die – eigentlich ja gut gemeinten – Kindertransporte änderten am Leiden der Kinder wenig, verschoben es allenfalls ein wenig. Einem ersten Aufwallen von Menschenliebe folgte so wenig Konkretes wie damals Angela Merkels „Wir schaffen das!“ Die Kinder wurden, sofern sie nicht doch noch nach Palästina gelangten, oft als unbezahlte Dienstmädchen gehalten, wie es auch der Fall von Käthe war. Und die Schuldgefühle, ihre Eltern verlassen zu haben, nicht bei ihnen im KZ gewesen zu sein, nicht bei ihrem Tod dabei gewesen zu sein – diese Schuldgefühle nahm ihnen auch niemand weg. Ebenso wenig wie den Verlust ihrer Muttersprache – so, wie bei Käthe, die in Zukunft nur noch als Karen und auf Englisch schreiben sollte.
Wahrheitsgetreu und gerade deshalb deprimierend: Das Unterkind. Eine Autobiografie. von Karen Gershon. Das Buch fand in Großbritannien zunächst keinen Verleger. (Was wohl – auch – an der falschen Überlegung lag, dass man dort dachte, ein Buch über die Behandlung der Juden im Deutschland der 1930er geht uns ja nichts an.) So kam es, dass es zunächst 1992 in der deutschen Übersetzung bei Rowohlt erschien und erst im Folgejahr in Großbritannien. Dabei sollten Bücher von Betroffenen, wie dieses, auf der ganzen Welt zur obligatorischen Schullektüre erklärt werden. Bezeichnenderweise ist das Buch bei Rowohlt unterdessen auch nicht mehr greifbar, dafür neu in dieser Ausgabe:
Karen Gershon: Das Unterkind. Eine Autobiografie. Aus dem Englischen von Sigrid Daub [man hat die Rowohlt-Übersetzung durchgesehen und in die aktuelle Rechtschreibung übertragen]. Mit einem Nachwort von Naomi Shmuel [einer Tochter von Karen Gershon]. Düsseldorf: Lilienfeld, 2023.
Wir danken dem Verlag für das Rezensionsexemplar.