Anatole France: Les dieux ont soif [Die Götter dürsten]

Im Vordergrund eine aufgeregte Menschenmenge, im Hintergrund Häuserfronten. Ausschnitt aus dem Gemälde "Robespierre et Saint-Juste partant pour la guillotine" von Alfred Mouillard (1884), das für das Buchcover verwendet worden ist.

Évariste Gamelin ist ein fiktiver junger, nur mäßig begabter Maler, der zur Zeit der Französischen Revolution lebt. Der vorliegende historische Roman von Anatole France schildert den Aufstieg (und Fall) des jungen Mannes während der Schreckensherrschaft von Robespierre und Saint-Just. Der Titel zitiert dabei einen berühmten Ausruf, den Camille Desmoulins getan haben soll, als ihm klar wurde, dass Revolution sich anschickte, ihre Kinder (genauer wohl: ihre Eltern) zu fressen, und er, der sich mit Danton zusammengetan hatte, eines ihrer ersten Opfer werden sollte. Gleichzeitig versucht sich der Autor in einer Analyse der (psychologischen, nicht historischen) Gründe bzw. Hintergründe, die überhaupt zu den Ereignissen und zu jener Epoche führten, die bis heute in Frankreich „La Terreur“ genannt wird. Der Roman setzt einige Wochen nach der Hinrichtung von Danton und Desmoulins ein, kurze Zeit vor der Ermordung Marats, und endet damit, dass Évariste Gamelin, wie zuvor seine Idole Robespierre und Saint-Juste, zur Guillotine gefahren wird. Ein kurzer Ausblick ganz am Ende zeigt dann, wie die Gesellschaft – jedenfalls die noch Verbliebenen – sich sehr rasch wieder an friedlichere Zeiten gewöhnt und schon fast das gleiche Leben wieder führt wie vor der Revolution.

Évariste Gamelin ist dabei ursprünglich gar kein übler Kerl. Eine frühe Szene zeigt ihn uns, wie er bei der Bäckerei im Quartier um Brot für sich und seine alte Mutter ansteht. Er ist einer der letzten, der noch eines kriegt. Hinter ihm bricht eine junge Frau in Tränen der Verzweiflung aus. Sie ist bereits halb verhungert; wenn sie nichts zu essen kriegt, wird nicht nur sie sterben sondern auch ihr kleiner Säugling, der schon jetzt keine Nahrung mehr aus ihren Brüsten zu saugen vermag. Mitleidig bricht Évariste sein Brot entzwei und gibt ihr die Hälfte. Die andere Hälfte trägt er nach Hause, wo er seiner Mutter sagt, er hätte seinen Teil schon gegessen, der Rest sei für sie. Hungrig, aber irgendwie glücklich, geht er zu Bett.

Zu Hause, in der kleinen Wohnung, die er mit seiner Mutter teilt, steht auch sein bestes Bild. Es zeigt eine Szene aus dem Schauspiel Orestes von Euripides, in der der Titelheld des Dramas gerade seine Mutter umbringt. Auf dieses Bild wird mehr oder weniger explizit immer wieder leitmotivartig angespielt – denn, so zeigt es sich, auch Évariste Gamelin wäre im Lauf seiner Radikalisierung schließlich bereit, Angehörige zu töten, zum Beispiel seine Schwester zu denunzieren, die einen adligen Geliebten hatte, aber beim Ausbruch der Revolution mit diesem aus Frankreich floh. Im Gegensatz zu ihrem Geliebten fällt sie ihm nicht in die Hände, aber auch so wird Évariste Gamelin viele ehemalige Freunde zum Tod verurteilen. Er, der viel zu viel Zeit an der Hand hatte und deshalb in einem der vielen lokalen Administrationskollegien der Revolution mitwirkte, wird nämlich eines Tages zum Geschworenen eines der vier großen Revolutionstribunale ernannt. Diese Ernennung verdankt er einer ehemaligen Adligen, der es gelungen ist, sich den Anschein zu geben, die Revolution zu unterstützen, obwohl sie mit ihren Freunden in Tat und Wahrheit die ungeheuer wichtigen Getreidelieferungen sabotiert und damit Geld verdient. Diese Frau wird es auch sein, die Brotteaux (s. u.) denunziert, aber schließlich entgeht sie ihrem Schicksal ebenfalls nicht und wird ebenfalls von Gamelin zum Tod verurteilt.

Was hat aus dem jungen und unschuldigen Maler dieses Monster gemacht, das sich noch auf dem Weg zur Hinrichtung überlegt, dass nicht nur erst Marat (sein früheres Idol) sondern auch Robespierre letztlich zu weich mit dem Volk waren, man zu wenig Leute hingerichtet habe, zu viele übrig geblieben sind, die nicht an die Ziele der Revolution glaubten?

Um dies darstellen zu können, führt Anatole France einen zweiten Protagonisten ein: Maurice Brotteaux. Dieser, ein ehemaliger Adliger, wohnt im selben Haus wie der junge Maler. In seiner kleinen Kammer unter dem Dach stellt er Marionetten aus Karton her, die er einem Spielwarenhändler verkauft und so seinen Lebensunterhalt verdient. Brotteaux stellt in diesem Roman den abgeklärten Weisen dar. Er glaubt an keinen Gott, was ihn nicht nur Wortgefechte mit einem klandestin lebenden Priester einträgt sondern letzten Endes auch sein Todesurteil. Denn die Revolutionäre unter Robespierre glauben zwar nicht an einen christlichen Gott, aber sie verehren dafür die Vernunft als Göttin. Für Brotteaux ist das ein Zeichen schlechtem Denkens. Er stellt im Roman die Stimme der Vernunft dar. Aufklärer im alten französischen Sinn, trägt er noch jetzt eine Ausgabe von De natura rerum des Lukrez mit sich herum und liest darin regelmäßig. Er besitzt eine Büste des Helvétius und hat noch die Salons des Baron Holbach besucht. Auch Rabelais kennt er auswendig und zitiert ihn des öfteren. Seine Lebensanschauung hat er von Epikur übernommen – gelassene Heiterkeit gegenüber den Dingen, die er nicht ändern kann.

Er sieht ganz klar, dass die gottähnliche Verehrung, die man nicht nur der Vernunft sondern auch Marat und Robespierre entgegen bringt (Évariste Gamelin ist ja nur ein Beispiel für viele), gegen jede Vernunft verstößt. Zum Schluss arbeiten die Revolutionäre mit dem gleichen Fanatismus wie seinerzeit die Inquisitoren – Anatole France hatte ursprünglich einen Roman über Inquisition schreiben wollen. Es ist in beiden Fällen der fanatische Glaube daran, Recht zu haben – der fanatische Glaube an die Notwendigkeit, Menschen anderer Meinung eliminieren zu müssen. So sagt er einmal zu seinem Nachbarn Gamelin:

J’ai l’amour de la raison, j’en ai pas le fanatisme […]. La raison nous guide et nous éclaire ; quand vous en aurez fait une divinité, elle vous aveuglera et vous persuadra des crimes.

S. 86 meiner Ausgabe

Wir können hier den Citoyen Brettaux als Sprachrohr von Anatole France verstehen. Als das Buch 1912 erschien, erregte es heftiges Rauschen im Blätterwald des französischen Feuilletons. Anatole France, zusammen mit Jaurès eine der Leitgestalten der linken französischen Intelligentsia, wagte es, die Französische Revolution schlecht zu machen! (Die ihrerseits eine der heiligen Kühe der französischen Linken war und wohl noch ist.) Man sah nicht (oder wollte nicht sehen), dass es genau diese Einstellung war, die Anatole France in seinem Roman an den Pranger stellte. (Anatole France war eines der Vorbilder des Schriftstellers Bergotte, den der junge Ich-Erzähler in Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit so verehrte. Könnte der Umstand, dass Bergotte in einem späteren Band so sang- und klanglos stirbt, damit zu tun haben, dass auch Proust von Anatole France wegen dieses Romans hier enttäuscht war, France für ihn sozusagen ‚gestorben war‘?)

Über dem Ganzen (man hat es vielleicht schon geahnt, als ich oben kurz den Schluss des Romans skizziert habe) schwebt eine seltsam heitere Ironie des Erzähltons. Der Autor sieht alle seine Protagonisten und Protagonistinnen mit ihren Stärken und Schwächen; er verdammt keine/n.

Eine durchaus empfehlenswerte Lektüre. Das Buch ist leider auf Deutsch nur noch als Print on Demand erhältlich. (Tredition und Hofmann haben mich aber noch nie enttäuscht.) Selber habe ich es auf Französisch, nämlich in folgender Ausgabe, gelesen:

Anatole France: Les dieux ont soif. Préface, note et annexes de Pierre Citti. Paris: Librairie générale française, 182022. (= Le Livre de Poche, classiques, n° 6687)

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