Joaquim Maria Machado de Assis: Contos Fluminenses

Dunkle, genarbte Oberfläche von Saffianleder mit einem geprägten Wappen. Die drei Bände der Werkausgabe des Machado de Assis sind wohl Anfang 1960er privat so gebundenen worden. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Fluminense ist ein heute nicht mehr gebräuchliches Adjektiv des brasilianischen Portugiesisch. Es setzt sich zusammen aus dem Suffix’-ense’, das in etwa so viel bedeutet wie ‚zugehörig zu‘, ‚Teil von‘. ‚Flumen‘ wiederum ist eigentlich ein Substantiv, dazu noch ein lateinisches, und bedeutet auf Deutsch ‚Fluss‘. Das Wort ist ziemlich sicher eine gelehrte Ableitung, die es in die Umgangssprache geschafft hat – zumindest für eine gewisse Zeit. Die Zeit nämlich des Joaquim Maria Machado de Assis, also ungefähr die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. In diesen Jahren schuf Machado den größten Teil seines literarischen Werks. Er gilt bis heute als der brasilianische Nationalschriftsteller. Tatsächlich verdankt es die brasilianische Literatur praktisch ausschließlich ihm, dass sie den Anschluss gefunden hat von einer epigonal-schwülstigen Romantik zur modernen Literatur, dem Realismus. Und gar die Weltliteratur verdankt ihm die ersten Geschichten, die über den Realismus hinausgingen und das begründeten, was – vor allem in Lateinamerika – als ‚magischer Realismus‘ das 20. Jahrhundert prägen sollte.

Contos, um auch das zu übersetzen, bedeutet ganz einfach ‚Erzählungen‘. Diese ‚zu dem (oder einem) Fluss gehörenden Erzählungen‘ handeln tatsächlich alle an ein und demselben Fluss – dem Rio de Janeiro. Genauer gesagt natürlich in der Stadt, die dessen Namen annahm, als sich herausstellte, dass der riesige Fluss, dessen Mündungsdelta die ersten portugiesischen Seefahrer zu erblicken meinten, als sie 1502 an diesem Punkt die Küste Südamerikas erreichten, und den sie – weil sie in diesem Monat auf ihn trafen – den ‚Januarfluss‘ nannten, dass dieser Fluss also gar nicht existierte. Was die Portugiesen sahen, war der äußere Teil der Guanabara-Bucht, an der heute noch die Stadt Rio de Janeiro liegt.

‚Geschichten von (oder über oder aus) Rio de Janeiro‘ müsste man also die Sammlung von Erzählungen nennen, die Joaquim Maria Machado de Assis 1830 publizierte. Es handelt sich dabei – mit einer Ausnahme – um Geschichten, die er bereits vorher, zum Teil unter Pseudonym, in den Zeitungen oder Zeitschriften von Rio veröffentlicht hatte. Dass ich nur einen brasilianischen Titel setze, hängt damit zusammen, dass die Contos fluminenses nie alle übersetzt worden sind. Ja, die Auswahl aus Machados Kurzgeschichten, die der Manesse-Verlag 2018 unter dem Titel Das babylonische Wörterbuch veröffentlicht hat, enthält keine einzige Geschichte aus den Contos fluminenses. Eine 1924 erschienene Ausgabe unter dem Titel Geschichten aus Rio de Janeiro enthält nur 4 ausgew. Novellen, alle offenbar aber auf Portugiesisch, denn explizit als von einem Willibald Schönfelder übersetzt wird nur Frei Simão angegeben. (Angaben nach dem On-line-Katalog der DNB).

Machado de Assis war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung zugegeben erst 31 Jahre alt – in vieler Hinsicht können diese Erzählungen also noch als Juvenilia gelten. Vor allem ihr Stil weist noch nicht auf den magischen Realismus voraus, auch wenn mit – einer Ausnahme – die Romantik bereits überwunden ist. Mehr oder weniger alle Geschichten sind Liebesgeschichten – oder, besser gesagt, handeln vom Verhältnis zwischen Mann und Frau. Und – mit einer Ausnahme – spielen alle Geschichten in Rio de Janeiro, zu jener Zeit Hauptstadt des Kaiserreichs Brasilien. (Die eine Ausnahme spielt sich in Petrópolis ab, und das ist auch nur rund 60 km von Rio entfernt.)

Was aber auch schon Interesse für diese Geschichten wecken sollte, ist die fortwährende ironische Distanziertheit, die der allwissende Autor seinen Figuren und ihren Handlungen gegenüber zeigt. Er macht sich nicht lustig über sie, aber so richtig ernst nehmen kann er sie offenbar auch nicht. Ich habe gerade gesagt, es handle sich hier um Liebesgeschichten, aber das Seltsame an diesen Liebesgeschichten ist, dass – mit einer Ausnahme – keine einzige ein klassisches Happy Ending findet. In allen Fällen sind es die Frauen, die die Männer hinhalten oder gar für ihre eigenen Zwecke ausnützen. Die meisten Männer aber sind Taugenichtse (im Eichendorff’schen Sinn) und Nichtsnutze. Unter dem Vorwand, ‚Politik‘ zu betreiben, bleiben sie über Nacht weg – in Tat und Wahrheit sind sie aber bei einer Geliebten oder trinken und spielen mit Freunden. Und mehr als einer von den Protagonisten dieser Geschichten hier hat beim Einsetzen der Novelle sein ganzes Geld verspielt und vertrunken. Doch keinem gelingt sein Plan, sich mittels einer reichen Heirat (für sich oder für seine Tochter) zu sanieren. Es kann sogar vorkommen, dass zwei Freunde sich gegenseitig so über den Tisch ziehen wollen. Jeder glaubt nämlich vom anderen, er habe Geld. So will der eine die Tochter des anderen heiraten, der andere aber sie verheiraten – beide aber um des Vermögens des anderen willen. Als aber dem einen zu Ohren kommt, der andere könnte bankrott sein, erklärt er ihm, er habe kein Geld. Vorsichtig, ganz vorsichtig, trennen sich die beiden. Wenn sie sich später in den Strassen Rios zufällig wieder treffen, begrüssen und umarmen sie sich, „wie die besten Freunde, die sie nie gewesen waren“.

Es findet sich auch eine Geschichte, die tatsächlich mit einer Heirat endet – und zwar glücklich endet. Das ist zugleich die einzige, die nicht direkt in Rio spielt, die einzige auch, in der der männliche Protagonist die Fäden in der Hand hält. Das ist, meiner Meinung nach, zugleich die literarisch am wenigsten gelungene Geschichte. Und es gibt eine Geschichte, bezeichnenderweise die einzige übersetzte der Auswahl von 1924, die noch die Eierschalen der Romantik an sich trägt – mit einer tragisch endenden Liebe für den Mann. Selbst Elemente der Schauerromantik sind in dieser einen Geschichte zu finden.

Ich will hier die sieben in den Contos fluminensis enthaltenen Geschichten nicht einzeln zusammenfassen oder vorstellen. In vielen Fällen kann das nicht geschehen, ohne die Pointe der Erzählung zu verraten. Aber ich fände es schön, wenn sich ein Verlag dieser Kurzgeschichten-Sammlung Machados annehmen würde (und auch der übrigen!). Machados Contos fluminensis (fluminensische Novellen) stehen auf demselben Niveau wie die nicht viel später erschienenen Züricher Novellen Gottfried Kellers.


Die maßgebende Ausgabe (auf Portugiesisch!) ist folgende:

Joaquim Maria Machado de Assis: Obra completa. Rio de Janeiro: Editoria José Aguilar, 1959.

Sie wird bis heute nachgedruckt.

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