Wir schreiben das Jahr 1759. Hamann ist aus London in die Königsberger Provinz zurückgekehrt. Der Zusammenbruch in England hat bei ihm zu einem Erweckungserlebnis geführt – aus dem Aufklärer Hamann wurde der Christ und Gegner der Aufklärung Hamann, der Magus des Nordens. Seine Freunde Berens und Kant versuchen noch, ihn zurück zu bekehren – erfolglos. Im Gegenteil, die Bekehrungsversuche fordern nun den Schriftsteller Hamann erst richtig heraus; erst jetzt beginnt Hamanns Laufbahn als Autor. Er hat mittlerweile auch seinen Ton gefunden – keinen leichten, einfachen, eingänglichen allerdings. Hamann ist ein schwieriger Autor geworden. Der Sturm und Drang hat Hamanns Dunkelheit als Programm verstanden, Hamann als sein Vorbild fürs Irrationale, Urtümlich-Mystische genommen. Bis heute gilt die Lehrmeinung, dass Hamann sich ab 1759 von der Aufklärung ab- und einem irrationalen Gotteserlebnis zugewendet, von diesem neuen Standpunkt aus die Aufklärung bekämpft habe.
Doch schon der Sturm und Drang irrte. Hamann ist keineswegs der Irrationale, als den die Poeten um Herder und Goethe ihn verstanden. Sein Stil ist dunkel, er liebt die Kürze, das Anakoluth. Doch Hamann schreibt nicht so, weil er aus dem Bauch heraus schreibt und deshalb nicht anders kann. Hamann bleibt auch nach seiner Erweckung ein Intellektueller, der sich mit intellektuellen Mitteln für sein Ziel einsetzt. Sein Stil ist bewusst dunkel und nur andeutend. Hamann hat schon lange vor Wittgenstein erkannt, dass es Dinge gibt, über die man nicht reden kann. Im Grunde genommen ist sein nächster Geistesverwandter Kierkegaard – auch ein Intellektueller, der sich aus seinen Bedrängnissen nicht anders als durch einen Salto Mortale in den Glauben retten konnte, und der diesen Salto Mortale doch auch immer als Pfahl im Fleisch empfand, bzw. im Geiste: als intellektuelles Ärgernis.
Hamann schreibt uneigentlich: Er bindet sich eine Maske vor – die Gestalt des Sokrates. Die Sokratische Ironie wird zu seinem bevorzugten Stil- und Denkmittel. (Denn Denken und Reden sind bei Hamann aufs Innigste verquickt.) Mit dem Vorbinden der Maske beruft er sich implizit auf einen andern Aufklärer. Hamann hat für sich bekanntlich Shaftesburys An Essay on the Freedom of Wit and Humour übersetzt. Darin hat sich der englische Aufklärer ganz klar dafür ausgesprochen, dass Witz, Humor, Satire oder Ironie durchaus berechtigte Mittel zur Schöpfung von Erkenntnis sein können. Auch wenn sich Hamann sonst in vielem von Shaftesbury abgewandt hat – diese intellektuelle Errungenschaft behielt er bei.
So also kommt er der Aufklärung mit Sokrates – ausgerechnet mit dem Philosophen, der von den Aufklärern als einer der ihren reklamiert worden ist. Dabei geht es Hamann nicht etwa um ein historisch fundiertes Bild des Sokrates – er benötigt Sokrates als Typus. Sokrates ist für ihn nicht der Aufklärer, sondern der pointierte Urheber des philosophischen Nicht-Wissens. „Der Mäeutiker Sokrates bezeugt, daß jedes Denken personal, daß die Vernunft individuell ist, wie der Bildhauer bezeugt, daß sie von Trägheit und Stolz beeinflußt ist. Wo bleibt denn die allgemeine und gesunde Vernunft, auf die sich die Rationalisten immer berufen? Der ehrliche Sokrates bezeugt, daß er kein gutes Herz hat, daß er unter sinnlichen Anfechtungen leidet – »Wie abscheulich würde der Mensch seyn vielleicht, wenn ihn der Leib nicht in Schranken hielte!« [HKA, S. 109]. Und der unwissende Sokrates, der gleichwohl vom Orakel für den weisesten Menschen erklärt wurde, zeigt, daß der Widerspruch, den die Logiker verdammen, daß die >coincidentia oppositorum< wie sie Hamann versteht, eine Grundgegebenheit des Seins ist.“ – Besser als Sven-Aage Jørgensen im Nachwort zur Reclam-Ausgabe der Sokratischen Denkwürdigkeiten kann ich es auch nicht ausdrücken. Zugegeben, dass diese Interpretation Hamann ein bisschen arg ins existentialistische Licht rückt.
Der Text selber kann in drei Abschnitte unterteilt werden. Zuerst die typologische Charakterisierung Sokrates‘. Ob Hamann den antiken Philosophen als einer der ersten zum typologischen Vorläufer Christi gemacht hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Genug, dass Hamann den Griechen so interpretiert . Der zweite Teil des Textes gibt eine Analyse der Unwissenheit. Da hätte man sich vom heutigen Standpunkt aus vielleicht ein bisschen mehr Kürze gewünscht, denn irgendwann hat man begriffen, was Hamann will – oder man wird es nie begreifen. In Teil 3 dann wird Hamann sozusagen persönlich. Er wendet das vorher Gesagte auf sich selber an, auf seine Lebenssituation eines Menschen, der – unfähig zu einem öffentlichen Amt (Hamann war Stotterer) – sich mit einer bescheidenen Stelle im Zoll zufrieden geben musste. Der, unfähig seinen sinnlichen Anfechtungen zu entgehen, in wilder Ehe mit der Magd seines Elternhauses zusammenlebte.
Die Sokratischen Denkwürdigkeiten sind an „Niemand“ gerichtet – oder an „die Zween“, nämlich Berens und Kant. Sie sind polemisch und ironisch. Sie beschreiben einen Hamann, der sich in einer ähnlichen Situation wiederfindet wie Sokrates. Wenn dieser auf seinen „Dämon“ zurückgreifen musste, um seine Entscheidungen zu rechtfertigen, so macht Hamann den Salto zu Gott. Wie ernst es Sokrates mit seinem Dämon war, und ob wir ihn deshalb schon als Monotheisten betrachten dürfen, wie es der katholische Philosoph Guardini getan hat, weiss ich nicht. Zumindest letzteres wage ich zu bezweifeln. Hamann war es aber ganz sicher ernst mit seinem Salto. Nur, dass es für ihn kein Salto rückwärts war. Der ehemalige Aufklärer und nunmehr bekehrte Christ wird zum Aufklärer der Aufklärung. In den Sokratischen Denkwürdigkeiten hat er seinen eigenen Standpunkt definiert. Von diesem Standpunkt aus wird er nun die Aufklärung über ihre eigenen Schwachstellen aufklären.
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