Wie ich schon anlässlich des ersten Nachlassbandes von Kuno Raeber feststellen durfte: Es ist immer so eine Sache um den Nachlass eines Autors. So auch mit dem zweiten Band aus seinem Nachlass, betitelt „Gedichte, Prosa, Aufsätze“. Während mir der erste Nachlassband durchaus behagte, um mich bequem Goethe’sch auszudrücken, bringe ich dem zweiten gemischtere Gefühle entgegen.
Auch der zweite Band ist chronologisch angeordnet wie der erste. Während uns aber der erste sozusagen einen Blick „hinter die Kulissen“ von Raebers Schreibwerkstatt erlaubte, bringt der zweite Unveröffentlichtes oder – v.a. bei der Lyrik – Einzelveröffentlichungen, die Raeber dann selber in keinen Sammelband aufgenommen hat. Bei letzterem sind ein paar nicht üble Gedichte dabei, obwohl es sich klar zeigt, dass Raeber auch in seiner Lyrik einen gewissen thematischen Bogen braucht, seine Gedichte nur als Kollektiv ihre volle Wirkung entfalten. Dass allerdings Texte aus Raebers Gymnasialzeit aufgenommen wurden, halte ich für übertrieben. Seien wir ehrlich: Selbst der grosse Goethe hat noch als Student in Leipzig beliebige lyrische Dutzendware verfasst. Wäre er als Student verstorben – kein Mensch würde heute auch nur seinen Namen kennen. Der einzige junge Mensch, der wirklich Gedichte schreiben konnte, war wohl Hugo von Hofmannsthal. (An dessen Gedichte die des jungen Raeber – der sich zu der Zeit übrigens noch Räber schrieb – epigonenhaft erinnern.)
Die ersten drei Zeitabschnitte also (1922 – 1943 / 1943 – 1950 / 1950 – 1957) kann sich der Leser im Grunde genommen getrost schenken. Seine prägende Begegnung mit dem katholischen Theologen Hans Urs von Balthasar wird auch im hier publizierten Ausschnit aus Raebers Werk nur am Rande gespiegelt. Auch da erfährt der Leser nicht mehr, als was die Herausgeber im ersten Nachlassband schon von sich aus hinzufügten.
Die folgende Periode (1958 – 1967) ist die vielleicht interessanteste in diesem Band. Allerdings: „Der Tod des Diokletian“, ein ganz offensichtlich stark von Dylan Thomas beeinflusstes Hörspiel-Experiment, darf man sich noch schenken. Es wurde nie veröffentlicht, trotz aller Bemühungen des Autors. Ich würde sagen: Zu Recht. Zwei längere Essays aber („Das Leben des Pietro Metastasio“ und „Der Blick des Basilisken“) lohnen die Lektüre für einen Raeber-Fan durchaus. Im Essay über Metastasio entwickelt Raeber so etwas wie seine eigene Kunsttheorie, ein Amalgam von barocker Poetik und katholischem Mystizismus. Im zweiten Essay setzt sich Raeber mit den Selbstmorden von Klaus Mann und Cesare Pavese auseinander. Eher eine Künstlertheorie als eine Kunsttheorie. Beide Essays auch als guter literarischer Journalismus lesenswert. Ein weiterer Essay aus dieser Epoche, „Literaten in München“, enttäuscht. Raeber traut sich nicht, Namen zu nennen, und bleibt so im Allgemeinen und Beliebigen. Diese Literaturszene könnte ich auch in Hamburg, Berlin oder Winterthur antreffen.
Die Epochen V und VI (1967 – 1972 / 1972 – 1982) sind dann eher für hartgesottene Raeber-Fans und dilettierende Literaturwissenschafter – also für Leute wie mich. Die Herausgeber publizieren hier von verschiedene Versionen der Anfänge von „Alexius“ bzw. „Das Ei“, Rabers grossen Romanen. Dazu einige Versionen seiner bekannteren Gedichte.
Was danach folgt, ist weder Enttäuschung noch positive Überraschung. Raebers Aufsätze halten sich auf relativ hohem feuilletonistischem Niveau, ohne es allerdings überschreiten zu können. Es zeigt sich ganz klar: Abstraktes Denken war seine Sache nicht. Raeber denkt und schreibt in und über Symbole, dort, wo er gut ist.
Ist Band II des Nachlasses demnach „verzichtbar? „Da er nur zusammen mit Band I verkauft wird, möchte bzw. muss ich dies verneinen. Sofern man nämlich einen grossen Schriftsteller näher kennen lernen möchte und gewillt ist, auch Nachrangiges aus seiner Produktion in den Bücherschrank zu stellen.