Peter Pan ist ein Mythos des 20. Jahrhunderts. Ich hätte ihn schon zusammen mit Conan und Tarzan erwähnen müssen. Dass er mir entfallen ist, mag daran liegen, dass die beiden Amerikaner halt Lektüre für ‚harte Männer‘ darstellen, der Engländer Kind ist und in einem Kinderbuch agiert :D.
Dabei ist Peter Pan sogar der älteste dieses Trios. Bereits 1902 erblickte er das Licht der Welt (in einem Buch für Erwachsene!), wurde 1904 für die Bühne adaptiert, und 1911 erschien dann zum ersten Mal der kurze Roman, den ich über die Feiertage gelesen habe. Die erste Auflage hiess einfach Peter and Wendy. Peter Pan hat seine Faszination bis heute nicht eingebüsst; auch Walt Disney fabrizierte einen Film über ihn. (Wobei Disney Peter Pans Kleidung – ein Kostüm aus trockenen Blättern, ja eigentlich nur den übrig gebliebenen Blattgerippen – in ein dezenteres grünes Jägerkleidchen verwandelt hat. Auch Disneys Tinkerbell ist dezent angezogen, während Barrie ganz klar sagt, dass ihre Kleidung recht durchsichtig war und sogar ihren Embonpoint sehen liess. Auch sonst hat Disney vieles der Sicht der heilen Kinderwelt angepasst, die Erwachsene heute so gerne haben – und die Barrie keineswegs teilte.)
Ich vermute, dass Pan – zumindest in der Romanfassung – die Erwachsenen sogar mehr faszniert als die Kinder. Sicher, die Handlung ist kindgerecht. Es werden nicht mehr Bösewichte umgebracht als in einem durchschnittlichen Grimm’schen Märchen. Auch die Sprache ist – ohne simpel zu sein – einfach und klar. Aber Barries grosses Thema – die Kindheit und der Umgang der Erwachsenen damit – wird Kinder wohl kaum interessieren, interessiert ja nicht einmal die Kinder im Buch selber. Peter Pan ist der Junge, der nicht erwachsen werden will. Auf der Insel Neverland, die jedes Kind kennt, weil jedes Kind zumindest zeitweise in diesem Reich der Phantasie lebt, macht Peter Pan jede Menge Abenteuer mit. Er hat sogar Gefährten: die „Lost Boys“ – Knaben, die ihrem Kindermädchen im Park aus dem Wagen gefallen sind und nicht mehr gefunden werden konnten. (Mädchen, erklärt Peter Pan mit grösster Selbstverständlichkeit, sind zu schlau, um aus einem Kinderwagen zu fallen.) Doch die „Lost Boys“ wachsen und müssen von Zeit zu Zeit ausgetauscht werden. Pan aber bleibt. Er zahlt – nach unserm Verständnis – einen hohen Preis dafür: Er vergisst. Er hat seine Mutter vergessen, er wird am Schluss der Geschichte vergessen haben, dass er Captain Hook im Zweikampf besiegt und in ein Krokodil gestossen hat. Er wird Wendy vergessen, die auf Neverland (halb im Spiel, halb im Ernst) seine „Mutter“ war, weil nun ihre Tochter diese Stelle eingenommen hat, so wie später die Tochter der Tochter und auch deren Tochter wieder diese Stelle einnehmen werden.
Barries grosses Thema ist die Nostalgie – die Sehnsucht des Erwachsenen nach dem ewigen Kind-Sein, die sich zumindest beim weiblichen Erwachsenen in die Sehnsucht nach dem Kind verwandelt. Das ‚real existierende‘ ewige Kind aber, Peter Pan, können die meisten Erwachsenen dann doch nicht sehen – Männer gar nicht, und auch Frauen wohl nur ausnahmsweise. Die erwachsen gewordene Wendy am Schluss des Buchs ist eine solche Ausnahme.
Alles in allem eine ganz interessante Lektüre. Barrie lässt immer wieder Humor durchblitzen, eine wohltuende Ironie, die zeigt, dass er Kinder wie Erwachsene nicht so ganz ernst nimmt. Dazu kommen durchaus realistische Einblicke in den riesigen Egoismus und Grössenwahn, den Kinder an sich haben, und den Barrie keineswegs verschönt. Doch auch Erwachsene, selbst Feen, handeln im Grunde genommen alle mehr oder weniger egoistisch.
Keine in Vanille-Sauce getünkte und mit Zuckerguss überzogene Kinder-Geschichte also.
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