Andreas Brandhorst: Das Artefakt

Für alle, die zufällig oder über allfällige Suchmaschinen (die uns allerdings eher zu ignorieren pflegen) auf diesen Artikel gestossen sind, möchte ich vorausschicken, dass ich mich nicht dem Literaturblogger-Ehrenkodex verpflichtet fühle, keine handlungsrelevanten Teile oder gar das Ende zu verraten. Im Gegenteil werde ich hier das Ende explizit behandeln – aus Gründen, die dem klar werden, der diesen Artikel zu Ende liest.

2012 erschien das Neueste von Andreas Brandhorst: Das Artefakt. Brandhorst (*1956) wurde als Autor für Science-Fiction-Heftromane gross (u.a. Die Terranauten und Perry Rhodan) und hat auch so einiges übersetzt in diesem Bereich (Star Trek-Romane) bzw. im Bereich der Fantasy. Meines Wissens hat er auch in diesem Genre eigene Romane verfasst (Die Stadt) – ich lese es bloss zu selten, als dass ich da genauer Bescheid wüsste. Mir wurde er ein Begriff mit seiner SF-Hexalogie (oder eigentlich Doppel-Trilogie), die im sog. Kantaki-Universum spielt. Moderne Science Fiction vom Feinsten, auch wenn ich – wie in jeder Trilogie – Längen und Füller zu bemängeln hatte.

Und nun also Brandhorsts Neuestes. Wie von ihm gewohnt, legt er gleich zu Beginn einen furiosen Start hin. Brandhorst kann fremde Welten und Umgebungen plastisch beschreiben, man hat sozusagen das Gefühl im Kino zu sitzen und hochwertigen Special Effects zuzuschauen. Vor allem das Spiel mit Farben und Fraktalen kann er grossartig beschreiben. Auch die Geschichte selber lässt nichts an Spannung zu wünschen übrig: Im All regieren die „Hohen Mächte“ – verschiedene hoch entwickelte Spezies, die technologisch weit fortbeschritten sind. Die Menschheit, auf dem Weg in diesen Kreis aufgenommen zu werden, verursacht eine Katastrophe kosmischen Ausmasses und wird die nächsten 600 Jahre auf Bewährung gesetzt. Diese Frist läuft gerade ab, als der Roman einsetzt. Zur selben Zeit wird auf einem Planeten ein Artefakt gefunden, das hochwertige Technologie verspricht, die nicht von Gnaden der Hohen Mächte stammt. Eine Chance, sich von den Aliens zu emanzipieren? Jedenfalls bricht ein Machtkampf unter den verschiedenen „Stämmen“ der Menschheit aus, an dem die alten Rassen offenbar nicht unbeteiligt sind.

Brandhorsts Roman ähnelt formal einem Triptychon. Im Gegensatz zu den mittelalterlichen Altarbildern sind allerdings die beiden Flügel die bedeutend grösseren Teile. Will sagen: Zu Anfang und am Schluss erzählt Brandhorst die Geschichte von Rahil, einem Vertreter der Ägide auf der Suche nach der Herkunft und der Kontrolle des Artefakts. (Die Ägide stellt den fortgeschritteneren Teil der Menschheit dar, den Teil, der hofft, eines Tages mit gutem Betragen von den sog. Primären in den Kreis der Hohen Mächt aufgenommen zu werden.) Der Mittelteil erzählt die Kindheit und Jugend des Helden.

Sehr bald scheinen die wichtigen Themen des Romans auf. Da ist zum einen die Problematik der Entwicklungshilfe, die in futuristischem Gewand erscheint. Die Ägide liefert hochwertige Technologie an minder glückliche von Menschen bewohnte Planeten. Sie kontrolliert auch, dass diese Technologie nicht in falsche Hände gerät. Die Ägide ist allerdings selber auch nur Empfänger dieser Technologie, die ihr von den sog. Primären unter denselben Konditionen geliefert wird. Es ist klar, dass die am Ende der Nahrungskette aufbegehren, die Technologie selber zu kontrollieren wünschen. Der Mittelteil, der eben mehr als nur ein Scharnier ist zwischen den beiden Flügeln, löscht dieses Thema allerdings praktisch aus. Er rückt dafür ein anderes, bei Brandhorst immer wiederkehrendes Thema in den Vordergrund: den Vater-Sohn-Konflikt. Hie ein übermächtiger Vater, dort der aufbegehrende Sohn. (Die Mutter ist bei Brandhorst de facto nicht-existent.) Diese Prädominanz des Vaters erstreckt sich sowohl auf den Lebensplan des Sohns (er soll einmal sein Nachfolger werden) wie auch auf das Gefühls-, das Liebesleben des Juniors. Der Vater lässt die erste Liebe des Jungen, sein Kindermädchen, verschwinden. Der Junge reisst aus; indem er ihr erzählt, der Vater habe das Kindermädchen getötet, das sie beide so liebten, vermag er auch seine Schwester zur Flucht zu bewegen. Die Schwester stirbt auf der Flucht, und Rahil macht sich nun sein Leben lang Vorwürfe, sie mit einer Lüge in den Tod geführt zu haben. Womit wir beim dritten Themenkreis des Romans sind: Wahrheit und Lüge.

Und dieser Themenkreis, der schon im ersten Teil stark angetönt wurde, wird im Laufe des Romans immer dominanter. Keiner scheint der zu sein, der er zu sein vorgibt. Menschen können mit modernster Technik wieder ins Leben gerufen werden, und so sind nicht einmal die Tode des Vaters, der Mutter, der Schwester sicher. Der Schluss löst, wie sich das für eine anständige Space Opera gehört, dann alle Verwicklungen auf. Das Artefakt wurde von der Menschheit aus einer Zukunft von 11’000 Jahren geschickt, um ihren Vorfahren zu einer Entwicklung unabhängig von den Primären zu verhelfen. Die Primären entpuppen sich als zum Teil ziemlich eigensüchtige Wesen, die nicht einmal Primäre sind, sondern ihrerseits einer Rasse alles Wissen verdanken. (Babylon 5 lässt grüssen, und dahinter natürlich Doc Smiths Lensmen.) Ausserdem ist auch die nach aussen vorgetragene Geschlossenheit der Nicht-einmal-Primären Chimäre, indem diese Völker unter sich heftigste Grabenkriege austragen. (Wie jeder Autor, der Zeitreisen beschreibt, verwickelt sich Brandhorst natürlich in unauflösbare Widersprüche: Die Mission der zukünftigen Menschheit scheitert beinahe, weil ein Teil der Nicht-einmal-Primären sie mit raffinierten Mitteln zu verhindern sucht. Eine im Grunde genommen sinnlose Tat, da alle Nicht-einmal-Primären wissen, wie die Zukunft aussehen wird.)

Ein recht spannender und ziemlich intelligenter Roman, der auch zu einigen Spekulationen über Wahrheit und Lüge verführt. Persönlich bin ich ja der Meinung, dass, wenn es keine Wahrheit gibt, es auch keinen Sinn macht, darüber zu sprechen, man es also, um Wittgenstein anzuwenden, sein lassen sollte. In diesem Roman führt das Thema „Wahrheit“ allerdings dazu, dass im (von der Rückblende des Mittelteils mal abgesehen) linear erzählten Roman eine Unterströmung wirkt, die geschichtlich nach hinten weist. Der erste Flügel des Triptychons zeigt eine Situtation, die sehr stark der aktuellen von 2012 ähnelt, wo Staatschefs und Warlords um Einfluss mittels hochentwickelter (militärischer) Technik kämpfen, und wo Staaten wie die USA versuchen, diese Technik nur kontrolliert und nur an die „Guten“ abzugeben. Der Mittelteil führt eine Welt vor, die sehr der ähnelt, die Jacob Burckhardt als die der Renaissance geschildert hat, der italienischen Stadtstaaten des ausgehenden Mittelalters, wo sich die Faktionen ähnlich bekämpften wie dies die Familien (darunter eben die Rahils) im Roman tun. Der zweite Flügel des Triptychons spielt auf dem Planeten Heraklon. Der Anklang an Heraklion, jene kretische Stadt, in der El Greco zur Welt kam, ist wohl nicht zufällig, denn El Greco ist bis heute bekannt durch sein Bild Das fünfte Siegel der Apokalypse. („Als das Lamm das fünfte Siegel öffnete, sah ich unter dem Altar die Seelen aller, die hingeschlachtet worden waren wegen des Wortes Gottes und wegen des Zeugnisses, das sie abgelegt hatten. Sie riefen mit lauter Stimme: Wie lange zögerst du noch, Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, Gericht zu halten und unser Blut an den Bewohnern der Erde zu rächen? Da wurde jedem von ihnen ein weißes Gewand gegeben; und ihnen wurde gesagt, sie sollten noch kurze Zeit warten, bis die volle Zahl erreicht sei durch den Tod ihrer Mitknechte und Brüder, die noch sterben müssten wie sie.“ – (Offb 6,9-11 EÜ)) Der Bogen von der Renaissance zurück ins Mittelalter, ja in die christliche Frühzeit, beginnt sich zu schliessen. Ganz zum Schluss dann, im Epilog, wird Rahil die Kontrolle über das Artefakt erlangt haben, und nun – in seiner eigenen Zeit praktisch unangreifbar und mit einem extra-langen Leben versehen – die Wahrheit z.B. über von den Regimes der Planeten verschleppte und ermordete Dissidenten publik machen; er öffnet das Fünfte Siegel. (Hat er doch herausgefunden, dass die Lüge, die er seiner Schwester erzählt zu haben glaubte, gar keine war. Sein Vater hatte das unliebsame Kindermädchen wirklich ermorden lassen.) Damit kommen wir (mindestens) zurück ins Mittelalter, ins scholastische Denken. „Daß es Wahrheit gibt, ist durch sich selbst bekannt. Denn wer leugnet, daß es Wahrheit gibt, räumt ein, daß es Wahrheit gibt; denn wenn es keine Wahrheit gibt, ist eben dies wahr, daß es keine Wahrheit gibt. Wenn aber irgendetwas wahr ist, muß es die Wahrheit geben. Gott aber ist die Wahrheit selbst, nach Johannes 14: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.« Also ist durch sich selbst bekannt, dass Gott ist.“ (Thomas von Aquin: Summa theologica, I 2,1 [Übers.: Kurt Flasch]) Und Rahil – möchte ich hinzufügen – ist Gottes Sohn.

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