Gedanken zum Aufsatz „Sozialwissenschaften, Werturteile und Verantwortung“ von H. Keuth

Die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert war geprägt von einer zunehmenden Technikfeindlichkeit – und dies nicht nur in philosophischer Hinsicht (man denke etwa an das pejorativ besetzte „technische Erkenntnisinteresse“ von Jürgen Habermas), sondern auch in politischer Hinsicht im Zuge einer Ökologisierung der Gesellschaft. Die Folge waren flächendeckend vertriebene, das ökologische Gewissen beruhigende Produktpaletten: „Grüne“ Deodorants wurden mit ebensolchem Erfolg beworben wie nachhaltige Handys, der SUV fährt in der Werbung durch intakte Landschaften und die Natur inhaliert mit offensichtlichem Vergnügen die Benzindämpfe etc. Der Schuldig am Umweltesaster ist rasch ausgemacht: Die „Technik“, wobei darunter so unterschiedliche Dinge wie die physikalische Grundlagenforschung (die Atombombe als ein Kind derselben), Industrialisierung, Mechanisierung, Computerisierung oder überhaupt Logik und Rationalität verstanden werden. Weshalb man in diesen technischen Forschungsbereichen Folgenabschätzungskommissionen eingerichtet hat, die sich auf die Naturwissenschaften als auch die Informatik beziehen (bzw. beschränken).

Ohne die Sinnhaftigkeit solchen Tuns bewerten zu wollen stellt Keuth die provokante Frage, wie es denn mit der Verantwortung der Geisteswissenschaften, der Theologie, der Philosophie aussieht. Wer da vorschnell dieses Tun als für das Leben irrelevant einstuft, sei an Karl Marx erinnert und die diversen Feldversuche im Osten Europas. Das Argument, dass Marx für die stalinistischen Gräuel nicht verantwortlich gemacht werden könne, verfängt nur teilweise: Denn dann müsste selbstverständlich auch die physikalische Forschung in Bezug auf sämtliche Massenvernichtungswaffen freigesprochen werden. Einstein und Planck sind für Hiroshima in ähnlicher Weise verantwortlich wie Marx für den Gulag.

Leider drückt sich Keuth ein wenig um die Antwort und nimmt den Beitrag zum Anlass, der Kritischen Theorie und ihren marxistischen Totalitätsträumen (die Habermas später gegen eine „ideale Kommunikationsgemeinschaft“ eingetauscht hat) die Leviten zu lesen. Hier hat er Recht, allerdings bleibt die eigentliche Frage unbeantwortet, nämlich inwiefern die Forschung für die Folgeerscheinungen ihres Tuns in Verantwortung genommen werden kann (und soll) und ob eine solche Verantwortlichkeit auf die Technik beschränkt oder auf die Geisteswissenschaften ausgedehnt werden soll.

Für die Naturwissenschaften scheint mir die Beantwortung (im Sinne der Forschungsfreiheit) sogar leichter zu fallen: Stellt doch sie einzig die Bedingungen zur Verfügung, die erst in einem gesellschaftlichen-politischen Tun zum Guten oder Bösen ausschlagen, während etwa totalitäre Utopien leichter als verwerflich an sich zu klassifizieren sind. Allerdings stellt sich hier die Frage, wer was und auf welchen Grundlagen als verwerflich bezeichnen bzw. den Gesellschaftsentwurf gegebenfalls auch verhindern darf. Die Grundlage (etwa die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen) ist selbst Ergebnis einer Übereinkunft, einer Übereinkunft, der zwar die meisten zuzustimmen bereit sind, die aber deshalb nicht als begründet oder gar sakrosankt gelten darf. Und selbst wenn uneingeschränkte Übereinstimmung bezüglich dieser Werte erzielt werden könnte, sodass Gerechtigkeit, Freiheit oder Gleichheit überall Geltung besäßen, so wird man bezüglich des Begriffumfangs von Freiheit oder Gerechtigkeit ganz sicher keine Übereinstimmung mehr erzielen.

Wir sehen uns also mit vorläufigen Werten konfrontiert und mit Auslegungen derselben, über die man zwar weitgehend einig sein kann, die aber immer nur auf vorübergehenden Konsens beruhen und selbst ständig Änderungen unterworfen sind. Wenn nun die – geistes- oder naturwissenschaftliche – Forschung Erkenntnisse, Vorschläge präsentiert, deren Folgen jenen vorläufigen Wertekanon verletzen könnten (wobei hierüber die Meinungen geteilt sein werden, eine Tatsache, über die man sich nicht durch das Postulieren einer „idealen Kommunikationsgemeinschaft“ à la Habermas hinwegmogeln kann), so soll dem Einhalt geboten werden. Wohlgemerkt aber ist es immer erst die Umsetzung der Erkenntnisse, niemals die Erkenntnis an sich, die in einem solchen Widerspruch stehen kann. Nicht der Entwurf einer politischen Vision totalitären Zuschnitts ist entscheidend (solche Entwürfe können modifiziert, revidiert werden und sind zumeist nicht „an sich“ gut oder schlecht), sondern die Realisierung und ihr Widerspruch mit humanistischen Werten haben fragwürdigen Charakter. Ähnliches gilt für die Physik und mit Einschränkungen auch für die Biologie oder die Psychologie: Nur das in den letztgenannten Bereichen auch die Forschung bereits der in den Grundsätzen festgelegten Ethik widerstreiten könnte (Tier- bzw. Menschenversuche).

Jedenfalls scheint eine grundsätzlich prophylaktische Beschränkung der Forschung nicht nur fragwürdig, sondern auch undurchführbar. Um die Folgen (gesellschafts-)wissenschaftlicher Erkenntnis abschätzen zu können, müssten wir in der Lage sein, die Zukunft vorauszusehen. Die Geschichte der Erfindungen und Entdeckungen ist aber vor allem eine Geschichte des Unerwarteten, des Überraschenden und nicht Vorhersehbaren. Benzin war bei der Erdölraffinierung lange Zeit ein unerwünschtes und nicht brauchbares Nebenprodukt (erst Verbrennungsmotoren haben dem Stoff eine Anwendung erschlossen), von der Primzahlenforschung gaben sich Mathematiker überzeugt, dass sie gänzlich nutzlos und „reine“ Forschung sei (ohne diese Forschung ist der gesamte Zahlungsverkehr heute undenkbar und ein Algorithmus zur Auffindung großer Primzahlen würde eine Katastrophe auslösen) und vom riesigen, unhandlichen Otto-Motor konnte man nicht annehmen, dass er einmal die Fortbewegung revolutionieren würde (für die Gegenwart ist das Beispiel schlechthin der Erfolg von PCs und Internet). Wir können weder wissen, was eine Erfindung zur Folge haben wird noch welche Erkenntnisse überhaupt relevant sind. Wir können bestenfalls – immer eingedenk unserer falliblen Erkenntnisse – Vorsicht walten lassen, wenn sich die Folgenabschätzung als schwierig erweist und sind wahrscheinlich gut beraten, im Zweifelsfall das geringere Risiko zu wählen. Wir können aber keineswegs die Forschung grundsätzlich einschränken: Damit würden wir uns auch unseres größten evolutionären Vorteils begeben, den wir Menschen besitzen: Den einer immer neugierigen, kreativen Sichtweise auf die Welt.

Um aber zur eingangs erwähnten Fragestellung zurückzukehren: Von der Folgenabschätzung dürfen die Geisteswissenschaften, wenn sie denn einen gesellschaftlich-politischen Anspruch erheben wollen, keineswegs befreit werden. Ein glänzendes Beispiel hiefür böte die Theologie: Die dort offerierte, exklusive und unumstößliche Wahrheit widerspricht in vielem unseren „Menschenrechtsüberzeugungen“, da sie die grundsätzliche Denkfreiheit des einzelnen beschränkt als auch das Recht auf individuelle Meinungsbildung restringieren will. Der Dogmatismus von Religionen ist – vom humanistischen Standpunkt aus – verwerflich und er zeitigt die überall auf der Welt sichtbaren Folgen – wobei nicht vergessen werden soll, dass über lange Zeit hinweg es das Christentum war (und auch sehr häufig noch ist), das durch seinen Dogmatismus Millionen Tote in Religionskriegen oder aber durch Ermordung Abtrünniger forderte. Dass Dogmatisierung häufig Fanatisierung zur Folge hat, scheint empirisch gut belegbar zu sein: Umso schlimmer, dass Derartiges immer noch staatlich gefördert in Schulen und Universitäten ihr Unwesen treiben darf.

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