Hans Henny Jahnn: Fluß ohne Ufer (Erster Teil: Das Holzschiff)

Orthographisches

Wer sich beim grössten Internet-Buchhändler (dem, der einen Urwaldfluss im Namen führt) das Bildchen der gebundenen Ausgabe (erschienen bei Hoffmann und Campe) ansieht, wird feststellen, dass die Kartonbox, die die drei Bände zusammenhält, mit fluss ohne ufer angeschrieben ist. Bei meiner Ausgabe steht dann allerdings fluß ohne ufer. Da meine Ausgabe als 1. Auflage 2014 firmiert, kann ich mir das nur so vorstellen, dass jener Buchhändler mit dem Bild einer Vorausgabe bedient wurde. Der ganze Roman wurde nämlich auch 2014 noch in der ‚alten‘ Orthographie gesetzt. (Im übrigen ist Hoffmann und Campe der erste deutsche Verlag, bei dem ich erlebe, dass eine Kartonbox wirklich dieses Namens würdig ist – es wurde Karton von doch gut 5 mm Dicke verbaut; die Box ist entsprechend stabil und kann die drei Bände gut halten.)

Formales I

Fluß ohne Ufer kommt formal als eine Art Triptychon daher, besteht der Roman doch aus drei Teilen. Das Triptychon ist etwas asymmetrisch geraten; der erste Teil (Das Holzschiff) ist nur ca. ¼ so lang wie der mittlere Hauptteil. Der Schluss umfasst dann etwa ⅓ des Volumens des Mittelteils. Werkgeschichtlich ist es aber offenbar so, dass ein Triptychon nie geplant war: Der Schlussteil war ursprünglich nur ein letztes Kapitel, das Jahnn auf Drängen seines Verlegers verfassen sollte, um einige ungelöste Fragen zu klären, wuchs dann aber an, bis zum Schluss Jahnn über seinem Roman verstarb. (Andere Interpreten vergleichen Fluß ohne Ufer mit einer Symphonie in drei Sätzen – vielleicht mit mehr Recht, war Jahnn doch von Beruf Orgelbauer und stand der Musik näher als der Malerei.)

Verwandtschaftliches

Jahnns Fluß ohne Ufer zählt zu den ‚Grossromanen‘ der deutschen Literatur, zu den ’schwierigen‘ Romanen. Das ruft sofort nach Vergleichen bzw. Versuchen, den Roman über Vergleiche einordnen zu können. Der ‚unvollendete Grossroman‘ z.B. ruft nach Musil und seinem Mann ohne Eigenschaften. Allerdings ist Musils Roman bei aller Fiktionalität ziemlich fest in der kakanischen Realität verhaftet, während Jahnns Fluß ohne Ufer zumindest im Ersten Teil von 1949, den ich jetzt gelesen habe, nichts mit der deutschen Realität der Nachkriegszeit zu tun hat. Keine Trümmerliteratur also. Das Schiffsmotiv des Ersten Teils wiederum ruft nach Vergleichen mit Joseph Conrad oder Herman Melville, was bekräftigt wird durch die Tatsache, dass deren Protagonisten ähnlich in ihr Ziel verbohrte Verlierer sind, wie die von Das Holzschiff. Das Labyrinth, das der Schiffsrumpf für Gustav, den Protagonisten, auf der Suche nach seiner Verlobten darstellt, die sinnlose und völlig unsystematische Suche Gustavs überhaupt, erinnern an ähnliche Lebensformen, die Franz Kakfa schildert – ohne dass Jahnns Roman im übrigen ‚kafkaesk‘ wirken würde. In seinem (seinerseits auch recht verworrenen) Vorwort spielt  Clemens Meyer auf zwei weitere Verwandte im Geiste an: E. A. Poe und H. P. Lovecraft. Die stehen auch zu Recht in dieser Aufzählung, schildert doch Jahnn ähnlich gespenstische und unerklärliche Phänomene wie die beiden US-Amerikaner; vor allem Lovecraft kam auch mir sofort in den Sinn.

Formales II

Jahnns Sprache: in Wortschatz und Grammatik äusserst gewählt, in beidem auch hyperkorrekt. Wir finden einfache Matrosen, die sich ausdrücken, als ob sie Gymnasiallehrer des ausgehenden 19. Jahrhunderts wären. Was in andern Fällen ein Manko wäre, ein grober Schnitzer des Autors, befremdet zwar auf den ersten Blick und bei den ersten Sätzen, steuert aber nach und nach zu der seltsam-bedrückenden Atmosphäre von Das Holzschiff beträchtlich bei. Daneben merkt man der Beschreibung des Schiffs, das nur aus Holz und Kupfer gebaut wurde, ohne ein einziges Stück Eisen, die Liebe des Handwerkers und Orgelbauers Jahnn zum Material Holz und zum Bauen aus Holz an.

Inhaltliches

Ein Segelschiff aus Holz sticht nach wochenlangen und Protagonisten wie Leser sinnlos scheinenden Vorbereitungen in See. Die ganzen 225 Seiten des Ersten Teils von Fluß ohne Ufer drehen um dieses Holzschiff, von dem keiner weiss, warum es gebaut wurde, wer dessen Eigentümer ist, was dessen Fracht ist. Der vom Reeder eingesetzte, sich an Bord befindliche Superkargo weiss genau so viel bzw. so wenig wie der Kapitän. Der hat – auch so eine Ungereimtheit in der Geschichte, die die Absurdität des Ganzen erhöht – seine Tochter Ellena mit an Bord gebracht, die wiederum ihren Verlobten Gustav als blinden Passagier, der gar kein blinder Passagier ist, indem sowohl Kapitän wie Superkargo von Anfang an um seine Anwesenheit wissen. Selbst der Reeder wird nach dem Ablegen an Bord gesehen, irgendwo im labyrinthisch verbauten Rumpf des Schiffes untertauchend. Dann verschwindet Ellena, und der Rest des Ersten Teils besteht in der Suche nach ihr (wie gesagt: völlig unsystematisch und unkoordiniert) sowie in einer von Furcht über ihr Verschwinden und über die mysteriöse Fracht ausgelösten Meuterei der Mannschaft mit Gustav an der Spitze.

Der Erste Teil endet in einem Sturm, der letztlich dazu führt, dass das Schiff untergeht. Der Leser erfährt nicht, was aus Ellena geworden ist; er erfährt nicht, woraus die Fracht denn nun bestanden hätte. Aber im Untergehen zeigt das Schiff plötzlich eine nie vorher gesehene Gallionsfigur:

Aller Augen hingen an ihr. Niemand entsann sich, sie vorher gesehen zu haben. Ein Bild wie aus gelbem Marmor. Eine Frau. Statue einer schimmernden, rauh behäuteten Göttin. Venus anadyomene. Die Arme, nach rückwärts geschlagen, verfingen sich in braunes, meerumrauchtes Holz, die üppigen Schenkel umklammerten den stolzen Baum des Kiels. Ein mächtiger, verführerischer Gesang zu den Männern hinüber. Eine dreiste Verheißung strotzender Brüste. Dann war die Erscheinung verschwunden.

Und erst mit diesem, fast dem letzten Abschnitt wird dem Leser das sexuelle Innuendo bewusst, das die ganze Zeit über auf dem Schiff die Mannschaft beherrschte.

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