Annette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche

Annette von Droste-Hülshoffs Judenbuche haben die meisten von uns irgendwann einmal in der Schule ‚durchgenommen‘. Die Erzählung eignet sich auch sehr gut als Schullektüre: Sie ist kurz, in fliessend-mitreissendem Stil verfasst, und ihr Ende einleuchtend.

Ist dem so? Gut, kurz ist sie und auch am Stil lässt sich nicht mäkeln. Ohne sich über die Protagonisten moralisch zu erheben, ein bisschen ironisch-distanziert, aber auch wiederum ohne die Protagonisten ins Lächerliche zu ziehen, schildert Droste-Hülshoff die Verhältnisse eines westfälischen Bauerndorfs im 18. Jahrhundert – eines Bauerndorfs, das sich von Gott und der Welt abgesondert findet. Ähnlich wie die Bauern des Emmentals bei ihrem Schriftsteller-Kollegen Bitzius sind auch diese Bauern nicht eigentlich Heiden – sie verfügen aber über eine ziemlich elastische Moral. Holz- und Jagdfrevel waren an der Tagesordnung – aber ganze Waldstücke ratzebutz abzuholzen, wie es die Bande der Blauhemden tut, wird von allen verurteilt. Dennoch weiss niemand oder will niemand wissen, wer diese Blauhemden sind, denn gegen jemand Zeugnis (nicht falsches Zeugnis!) abzulegen, gilt als verboten. Raufereien sind akzeptiert (bei den häufig vorfallenden Schlägereien hatte sich jeder selbst seines zerschlagenen Kopfes zu trösten), Mord oder Totschlag eigentlich nicht, aber eben: Man legt kein Zeugnis ab gegen irgendwen. Kirchliche Gebote werden auf diese Weise mal umgangen, mal uminterpretiert.

Die Judenbuche erzählt das Leben des Friedrich Mergel, der 1738 als Sohn eines sogenannten Halbmeiers oder Grundeigentümers geringerer Klasse zur Welt kommt. Sein Vater ist ein Säufer, seine Mutter (Mergel seniors zweite Frau) hat ebendiesen Säufer in schon vorgerückterem Alter geheiratet – im der festen Überzeugung, dass eine Frau, die sich von ihrem Mann misshandeln lässt, selber daran schuld sei. Sie muss sehr schnell einsehen, dass sie ihre Kräfte überschätzt hat. Im Laufe der Jahre wird sie zu einer halb-dementen alten Vettel herabsinken. Friedrich gerät mehr oder weniger unter die Obhut ihres Bruders, Simon, der ein typischer Bewohner dieses Dorfes ist: verschlagen, hochmütig, schlau. Hat er den Oberförster im Wald umgebracht? Der Text deutet es an, Friedrich scheint Zeuge gewesen zu sein, aber der Kodex des Dorfes verbietet ihm, auch nur seine Zeugenschaft in der Beichte zu enthüllen. Später dann wird bekanntlich ein Jude am Dorfrand erschlagen; die Indizien deuten auf unsern Friedrich Mergel, doch der ist mit seinem Freund und Faktotum Johannes Niemand verschwunden. Die jüdische Gemeinschaft kauft den Baum, unter dem ihr Glaubensgenosse erschlagen wurde, und versieht ihn mit einer Inschrift. (Droste-Hülshoff liefert in diesem Stadium der Geschichte die Inschrift nur auf Hebräisch; erst am Schluss der Erzählung erfährt der Leser ihre deutsche Übersetzung.)

28 Jahre später betritt ein fremder Alter das Dorf. Der Heimgekehrte ward als Johannes Niemand erkannt, und er selbst bestätigte, daß er derselbe sei, der einst mit Friedrich Mergel entflohen. Er hat Jahre in türkischer Sklaverei zugebracht. Später dann verschwindet der Alte wieder, und nur durch Zufall wird die bereits halb verweste Leiche in den Zweigen der Judenbuche hängend gefunden. Selbstmord. Man entdeckt am Hals der Leiche eine Narbe, die den Toten als – Friedrich Mergel ausweist. Und nun erfährt der Leser auch die Übersetzung der hebräisch geschriebenen und schon halb überwachsenen Inschrift:

„Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast.“

Das klingt nach ein wenig Grusel-Faktor, sehr viel Realismus und einer gut geschriebenen Story.

Wenn man genauer hinsieht, wird man aber merken, dass dem keineswegs so ist. Im Grunde genommen hat die Geschichte an allen Ecken und Enden Löcher. Die Blauhemden, diese Bande von Holzfrevlern, wird nie entdeckt. Man weiss, dass sie nicht aus Mergels Dorf stammen können, weil bei einer ihrer nächtlichen Untaten praktisch das ganze Dorf bei einer Hochzeit zu Gast war. Aber sie verschwinden, wie sie gekommen sind. Der Alte wird – offenbar spontan – als Johannes Niemand erkannt, und man findet sogar Züge des vor fast 30 Jahren Verschwundenen im Greis wieder. (Natürlich ist er durch die lange erduldete Sklaverei auch entstellt.) Wie kann der Alte nun plötzlich Mergel sein, der zu seiner besten Zeit ein ganz anderer Typ als Johannes war? Die Narbe schliesslich, anhand derer man im Toten Friedrich Mergel erkannt hat – woher kommt sie? In der ganzen Erzählung erfahren wir nie davon, dass sich Mergel eine Narbe am Hals zugezogen hätte, auf welche Art auch immer.

Nein, bei einer genauen Lektüre hinterlässt einen diese Erzählung mit mehr Fragen als Antworten. Sie ist so simpel nicht gestrickt, wie unsere Lehrer es uns weis machen wollten, und beweist weniger das Vorhandensein einer überirdischen Gerechtigkeit als den menschlichen Drang, eine einfache Erklärung offenen Fragen vorzuziehen.

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