Japan, Ende des 10. Jahrhunderts u.Z. Die bisher engen kulturellen und politischen Beziehungen Japans zu China haben sich gelockert – Japan steuert in die lange Phase der selbstgewählten internationalen Isolation, die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts u.Z. dauern sollte. Der Hof des japanischen Kaisers war schon seit 150 Jahren nach Heian Kyo verlagert worden, dorthin, wo heute Kyoto liegt.
Nun darf man sich unter dem kaiserlichen Palast im 10. Jahrhundert nichts Prachtvolles vorstellen. Im Gegensatz zum Palast des chinesischen Kaisers um dieselbe Zeit bestand der der japanischen Kaisers aus den damals üblichen Papierwänden mit Holzrahmen, Holz- bzw. Schindeldach. Möbel waren selten, selbst die mit Reisstroh gestopften Matten, auf denen man schlief oder sass, waren noch nicht von der Qualität und so bequem, wie die heute verwendete Tatami-Matte. Die Gebäude des Palasts waren schmutzig. Im Winter war es in darin eiskalt – als Heizung dienten Becken mit glühender Kohle, die in einen Raum gestellt wurden. Im Sommer waren dieselben Räume dafür stickig und heiss. Da es als unschicklich galt, wenn man die Körperform eines Menschen erraten konnte, trugen Männlein wie Weiblein mehrere Schichten Kleider aufeinander, Sommer wie Winter, Tag und Nacht. Der Kaiser war eine rein repräsentative Gestalt: Die wirklich regierenden Herren trugen Sorge, ihn mit religiösen, zeremoniellen Aufgaben so zu beschäftigen, dass er keine Zeit fand, sich in die eigentlichen Regierungsbelange einzumischen. Ausserdem war er zu Sei Shōnagons Zeit ein Kind. Auch das war Teil der Politik des wirklich herrschenden Hauses Fujiwara: Sollte so ein Kaiser alt genug werden, um sich wirklich aktiv in die Regierung einbringen zu wollen, wurde er abgesetzt und durch einen minderjährigen Verwandten ersetzt. Ähnlich hielt man es mit den Kaiserinnen. Sei Shōnagon war Hofdame bei Sadako, der Gemahlin von Ichijo, dem 66. Kaiser. Sadako war die Tochter von Michitaka, dem stärksten Mitglied der Fujiwara-Familie, die ihre Stellung durch solche strategischen Heiraten zu stärken pflegte. Als Michitaka starb, übernahm nicht, wie zu erwarten stand, sein Sohn Koretchika dessen Stellung. Geschickt intrigierend gelang es Michinaga, dem Bruder Michitakas, diesen weg zu befördern und selber an die Macht zu kommen. (Es ist dieser Epoche gut zu schreiben, dass man sich auf Intrigen beschränkte und nicht – wie später auch in Japan üblich – zu den standardmässigen Mitteln der Realpolitik griff: Gefängnis, Folter, Mord.) Relativ rasch ersetzte Michinaga seine Nichte Sadako als Kaiserin durch eine eigene Tochter. Damit war Sei Shōnagons Zeit als Hofdame zu Ende – die neue Kaiserin war offenbar bedeutend prüder als die alte und schätzte Sei Shōnagons Lebenswandel nicht so sehr. Unsere Lady verschwindet wieder in der Anonymität der Provinz, aus der sie auch stammte.
Sei Shōnagons Kopfkissenbuch ist eine Sammlung von sehr diversen Dingen. Da gibt es simple Aufzählungen (Brücken, Flüsse, Furten etc., die ihr gerade in den Sinn kommen); kleine Landschafts-Vignetten; Stimmungsbilder eines Morgens, an dem der Liebhaber die Geliebte verlässt, um nach Hause zu gehen; Anekdoten über das Leben am Hof; Beschreibung der Bekleidung verschiedener Personen bzw. Ämter; Schilderungen religiöser Riten. Was wir heute über das Leben am japanischen Kaiserhof des 10. Jahrhunderts wissen, verdanken wir zu einem schönen Teil Sei Shōnagon. Um dort eine Stellung zu finden, hatte man Literatur und Musik zu kennen und zu beherrschen. Selbst die eigentlich Regierenden, die Mitglieder der Familie Fujiwara, waren versierte Flöten- oder Lautenspieler. Von den Hofdamen wurde erwartet, dass sie Gedichte der japanischen Klassiker kannten und rezitieren konnten – ad hoc, wenn es sein musste. Sei Shōnagon brillierte nur schon, weil sie neben Hochjapanisch ein paar Zeichen Chinesisch lesen konnte, und auch chinesische Gedichte zu rezitieren wusste. Das wurde zu jener Zeit von einer Frau nicht (mehr) erwartet.
Die Stellung der Frauen am japanischen Hof des 10./11. Jahrhunderts war übrigens sehr liberal. Dei Hofdamen konnten im Grunde genommen kommen und gehen, wie es ihnen passte. Selbst Verheirateten war es erlaubt, Geliebte zu haben; ja, in gewissem Sinne wurde es sogar erwartet. Das Ganze musste allerdings dann doch sehr diskret über die Bühne gehen, was nicht ganz einfach war in Häusern, die stets von mehreren Hofdamen bewohnt waren, deren Wände aus Papier bestanden, und wo man jedes Wort verstand, jede Bewegung hören konnte, die in den angrenzenden Räumen vor sich ging. Diese Geschehnisse waren dazu stark ritualisiert: Am frühen Morgen hatte der Liebhaber nach Hause zu gehen und dort eine Art Dankesbrief für die verflossene Nacht zu verfassen und sofort seiner Geliebten zu schicken. Das Schreiben von Briefen war zu einer hohen und komplizierten Kunst geworden: Papier, übriges Schreibmaterial, selbst die (obligatorischen!) Beilagen mussten genau überdacht werden. Sei Shōnagon beschreibt verschiedene Male, wie sie am frühen Morgen dem Geliebten nachschaut, wenn er nach Hause geht und sie stellt sich vor, wie er unterwegs andere Männer sieht, die ebenfalls noch im Morgentau dasselbe tun. (Solche Dinge erzählt sie vorsichtshalber in der 3. Person, während sie ansonsten durchaus in der ersten berichtet. Auch die Namen ihrer Liebhaber – und es müssen deren ziemlich viele gewesen sein, Sei Shōnagon machte liberalen Gebrauch der freien Sitten unter Sadako – verschweigt sie meist.)
Sei Shōnagon – wir wissen wenig über sie. Sie stammte aus Provinzadel, eben jenem Adel, über dessen ungeschicktes Verhalten sie sich lustig machte, wenn dieser von Zeit zu Zeit für rituelle Aufgaben an den Hof gezogen wurde. Wir kennen nicht einmal ihren Namen: Sei ist wahrscheinlich ihr Familienname, eventuell ein Spitzname oder sogar ein selbst gewähltes Pseudonym; Shōnagon bezeichnet ihre Stellung am Hof als Rat minderen Ranges (des 6. Rangs, um genau zu sein). Sie ist frech und vorlaut, aber auch romantisch und sentimental. Sie ist das personifizierte It-Girl des 10. Jahrhunderts – sie weiss genau, welche Farben und Stoffe zusammenpassen, welche Handlung wo und wie zu erfolgen hätte. Und manchmal lobt sie auch sich selbst, wenn es ihr wieder einmal gelungen ist, die richtige Antwort zum richtigen Zeitpunkt zu finden (woran die Qualität einer Hofdame im Übrigen gemessen wurde!). Schöne Bekleidung kann sie ebenso in Entzücken versetzen wie Schnee auf dem Schindeldach eines Tempels. Sie weiss, was sich schickt, und hält mit diesem Wissen nicht hinter dem Berg – ob es um Kleidung ging oder das Verhalten am Hof. Ihre Kaiserin liebt sie heiss, und mit 30 hält sie sich für eine alte Frau (beim damaligen Durchschnittsalter von 40 kein Wunder!).
Nur schon wegen der Schilderung von gewissen Personen oder der kleinen Anekdoten, die sie berichtet, ist es ein Vergnügen, ihr Kopfkissenbuch zu lesen. (Ich habe es auf Englisch gelesen, nebenbei, in der Übersetzung von Ivan Morris.) Der Hof, den sie schildert, ist eine abgeschottete kleine Welt in einer andern abgeschotteten und nur wenig grösseren Welt – eine Blase in einer Blase. Aber ein in dieser Form einmaliges Phänomen und eine faszinierende Welt.
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