Die Grundthese des Buches lautet, dass unser Gehirn formbar ist – und das in einem bisher nicht erkannten Ausmaß. Die lange Zeit dominierende Lokalisationstheorie hat eine solche Plastizität bezweifelt und ist von einer fest vorgegebenen Struktur ausgegangen – inklusive einer strengen Zuweisung bestimmter Hirnareale an bestimmte Funktionen. (Dass das nicht ganz so sein kann ist aber schon durch simple Überlegungen offenbar: Unser Gedächtnis nimmt Tag für Tag Neues auf, behält das eine länger, das andere kürzer im Gedächtnis. Wenn man diese Gedächtnisstrukturen als nicht rein „geistig“ betrachtet (wobei ein „reiner Geist“ ohne materielles Korrelat bisher nur in englischen Schlössern beobachtet wurde), so müssen sie sich in irgendeiner Weise im Gehirn materiell manifestieren.)
Doidge erzählt hier die Geschichte des sukzessiven Nachweises dieser Plastizität unseres Gehirns: Schon seit rund 150 Jahren sind Schlaganfallpatienten bekannt, die einige (viele) ihrer Fähigkeiten wiedererlangt haben (durch die modernen bildgebenden Verfahren konnte man nachweisen, dass nicht die verletzte Gehirnsubstanz sich regeniert hat, sondern die Funktionen von anderen Gehirnarealen übernommen wurden), aber erst in unserer Zeit sind die Möglichkeiten eines gezielten Trainings bestimmter Fertigkeiten offenbar geworden: Menschen, die die Kontrolle über ihren Körper teilweise verloren hatten, können diese durch gezielte Therapie zurückerhalten (etwa indem man das Gehirn an der Gewöhnung hindert, alles mit der „gesunden“ Hälfte verrichten zu wollen: So wurden Patienten durch Fixierung ihrer gesunden Gliedmaßen daran gehindert, diese zu gebrauchen, um dem Gehirn die Möglichkeit einer Neuverschaltung der Nervenbereiche zu ermöglich – mit bemerkenswertem Erfolg). Diese Lernfähigkeit des Gehirns bietet aber nicht nur Chancen bei physiologischen Einschränkungen, sondern auch bei psychischen Erkrankungen: Neurotisches, psychotisches Verhalten kann auch wieder verlernt, Verhaltensauffälligkeiten können (potentiell) korrigiert werden, indem feststehende neuronale Verbindungen gelöst, andere erzeugt werden. (Dass das tatsächlich und mit oft erschreckendem Erfolg praktiziert werden kann zeigen Sekten und Religionen: Gezielte Gehirnwäsche – vor allem in der Kindheit – erzeugt eine nur schwer zu ändernde Einstellung und kann auch im Erwachsenenalter noch Erfolge zeitigen. Diese negative Einflussnahme hat aber ihre positive Entsprechung: Alles, was erlernt werden kann, vermag auch wieder verlernt zu werden.)
Doidge bringt für diese Formbarkeit des Gehirns zahlreiche Beispiele aus der Welt der Liebe, der Sucht oder des Schmerzes (und liefert damit auch plausible Erklärungen für die Schmerzunempfindlichkeit indischer Fakire). Das Gehirn als eine Art „Muskel“, der trainiert werden kann, birgt für den einzelnen ein sehr viel größeres Maß an Freiheit (oder wenigstens die gedankliche Möglichkeit an eine solche – aber auch das kann befreiend wirken): Er ist nicht mehr ein bloßer Handlanger seines Gehirns, sondern kann aktiv auf dieses Gehirn Einfluss nehmen (wobei es eine interessante erkenntnistheoretische Frage sein könnte, wer da wie auf wen Einfluss nimmt: Das Ich scheint wieder einmal unrettbar zu sein). Dass dies möglich ist, hatte man schon länger vermutet und über Tierversuche nachgewiesen: Ratten in einer reizarmen Umgebung haben ein um bis zu 15 % kleineres Gehirn als jene, die vielfältigen Umweltreizen ausgesetzt wurden. Und bei geistig aktiven Menschen ist die Zahl der Alzheimer- und Demenzerkrankungen signifikant geringer. Dies liegt – nach Ansicht des Autors bzw. der von ihm zitierten Studien – auch daran, dass ein größeres, besser trainiertes Gehirn im Krankheitsfalle mehr Möglichkeiten hat, verloren gegangene Fähigkeiten in andere Bereiche auszulagern. Außerdem wird er nicht müde darauf hinzuweisen, dass zwar im frühkindlichen Alter die Plastizität am größten ist, nichtsdestotrotz aber auch im hohen Alter durch entsprechende Aktivitäten unser Gedächtnis, die Logik – unser gesamtens Denken – verbessert bzw. trainiert werden kann.
Einen weiteren, sehr interessanten Forschungsbereich eröffnet diese starke Formbarkeit unseres Gehirns durch kulturelle Einflüsse auf dem Gebiet der Psycho-Anthropologie. Sie könnte einen Teil der Erklärung für jenen großen Sprung sein, den die Menschheit in den letzten 12000 Jahren gemacht hat (denn die genetische Ausstattung scheint sich seit etwa 100000 Jahren kaum geändert zu haben). Doidge wirft diese Fragen im Anhang seines Buches auf und zitiert dabei den Kognitionsarchäologen Steven Mithen, der diesen Sprung mit einer Art „kognitiven Fluidität“ begründet: Die drei Module der naturgeschichtlichen, technischen und sozialen Intelligenz hätten nicht mehr unverbunden nebeneinander existiert, sondern sich verschaltet und dadurch diesen Sprung ermöglicht. Ich bin mir – die psychische Plastizität des Gehirns vorausgesetzt – nicht sicher, ob es eines solchen „Ereignisses“ bedurft hat: Die Entstehung von Kultur in all ihren Ausprägungen musste einen zuerst langsamen, dann aber exponential zunehmen Prozess auslösen, der uns – heute – als ein hauptsächlich lernendes (und damit auch unser Gehirn formendes) Wesen ausweist.
Das Buch ist in jedem Fall ungeheuer anregend für jeden irgendwie interessierten Menschen, da seine Thesen weitghende Implikationen in philosophischer, anthropologischer und naturwissenschaftlicher Hinsicht nach sich ziehen. Die Fallstudien (bzw. die Tierexperimente, die ich allerdings mit einem unbehaglichen Gefühl gelesen habe: Hier stellt sich die Frage nach der Berechtigung der „höheren“ Art, die niedrigere für ihre Zwecke schlicht zu instrumentalisieren. Und wenn wir – aus welchem Grund auch immer – uns dieses Recht zugestehen: Wer wollte dann etwa einer noch „höhereren Art“, einer Art „Alien“, das Recht absprechen, uns genau so zu verwenden?) beschreiben das faszinierende Spektrum einer sich enorm entwickelnden Wissenschaft, die daraus gezogenen Schlussfolgerungen sind durchwegs plausibel (ohne dass man nun jeder einzelnen Überlegung zustimmen muss) und eine wahre Fundgrube für weitergehende Forschungen. Und so kann ich endlich einmal einen Bestseller ohne wenn und aber empfehlen.
Mit dreieinhalb Jahren Abstand würde ich dieses Urteil so nicht mehr fällen. Bei der Zweitlektüre gab es Vieles, das mir missfallen hat (und ich habe selten eine so starke Diskrepanz zur ersten Lektüre bei einem Sachbuch gespürt wie hier).
Das liegt an seinem Hang zur Psychoanalyse, an dem teilweise unreflektierten Umgang mit Quellen und Studien (der von ihm so hochgelobte Michael Merzenich mit seinem FastForWords-Programm konnte die von ihm – und Doidge – referierten Ergebnisse nicht wiederholen, im Gegenteil: Alle nachfolgenden Studien habe keinen Nachweis der Wirksamkeit dieses Programmes erbracht), seiner Unkenntnis der Philosophiegeschichte (von Rousseau und anderen Aufklärern scheint er bestenfalls Ausschnitte zu kennen), der Redundanz des Buches: Das sich auf die Aussage „unser Gehirn ist veränderbar“ reduzieren lässt. Und es ist auch ein Buch der Form, dass sich für alles und jedes eine Studie finden lässt. Verglichen mit dem Buch von Sapolsky spielt dieses jedenfalls in einer völlig anderen Liga. Und während ich bei letzterem nie den Eindruck hatte, dass er das Buch aus ökonomischen Gründen geschrieben hat, hatte ich bei Doidge den Eindruck, dass es sich bei ihm um jemanden handeln könnte, der sich sehr gut verkaufen kann.
Am meisten Kopfzerbrechen macht mir aber mein eigenes Urteil (das ich trotz allem jetzt mal so stehen lasse): Es zeigt mir – u. a., dass das Vergnügen an einem Buch von zahlreichen Unwägbarkeiten abhängig zu sein scheint und keineswegs in Stein gemeißelt ist. In dieser Intensität habe ich das kaum jemals empfunden.