Es geht um die grundsätzliche Frage menschlichen Handelns und im speziellen um die im Titel angeführten Verhaltensweisen von Gewalt und Mitgefühl. Sapolsky analysiert sie aus biologischer Sicht (er ist Primatologe und Neurowissenschaftler), indem er die Ursachen menschlichen Tuns zeitlich zurückverfolgt: Was geschieht im Körper unmittelbar (in der letzten Sekunde) vor einer Handlung, was hat diese letzte Aktion ausgelöst, welche hormonellen Voraussetzungen müssen gegeben sein, inwieweit haben – noch weiter zurückgehend – die Umwelt, die Kindheit, pränatale und genetische Faktoren Einfluss genommen und warum ist die Evolution diesen Weg gegangen? Das gibt tatsächlich Stoff für 1000 Seiten (oder mehr) und besticht vor allem durch die Kombination aus wissenschaftlichen Fakten und intelligenter Interpretation. Und Sapolsky erweist sich von Beginn an als ein Feind jedweder monokausaler Erklärungen (sein Resumee auf der letzten Seite lautet – ein wenig selbstironisch – aber doch auch ernst: Es ist alles sehr kompliziert.
So übt er Kritik an vereinfachenden Interpretationen – beispielsweise der einseitigen Darstellung hormoneller Funktionen: Weder macht Testostoron per se aggressiv (sondern nur unter bestimmten Voraussetzungen, etwa, wenn schon zuvor eine erhöhte Aggressivität festgestellt werden konnte), noch macht das „Kuschelhormon“ Oxytocin aus den Menschen in jedem Fall einen liebenswerten Zeitgenossen (gegenüber Fremdgruppen passiert in der Regel genau das Gegenteil). Und er betont die Schwierigkeiten all dieser Tests und Untersuchungen, das Problem von Korrelation und Kausalität (etwa in Bezug auf Aggressivität: Haben gewalttätige Menschen einen höheren Testoronspiegel und sind deshalb aggressiv oder ist dieser Spiegel erst eine Folge der Aggression – bzw. – wie oben angeführt – kann ein solcher Zusammenhang überhaupt hergestellt werden und wenn – unter welchen Voraussetzungen?), er betont die Wichtigkeit von Umweltfaktoren (eine identische hormonelle Ausstattung kann aufgrund äußerer Umstände zu gänzlich verschiedenen Verhaltensweisen führen), wobei auch diese Umweltfaktoren wieder vollkommen unterschiedliche Nachwirkungen haben: Zwischen schwerer posttraumataischer Verhaltensstörung und gänzlicher Wirkungslosigkeit. Wie erwähnt – alles sehr kompliziert, von unzähligen Begleitumständen abhängig und nur höchst eingeschränkt prognostizierbar: Zumeist können nur Tendenzen festgestellt werden, bestimmte Neigungen unter bestimmten Umständen. Was aber nicht bedeutet, dass solche Untersuchungen aufgrund ihrer Ungenauigkeit sinnlos seien: Der Autor vergleicht unser heutiges Wissen um diese Zusammenhänge mit dem der Epilepsie zu Beginn der Neuzeit. Spätere Forschergenerationen würden sicher ob unserer Ein- und Ansichten einmal die Hände über dem Kopf zusammenschlagen; nichtsdestoweniger lohnt sich die Erforschung um des Wissensfortschrittes willen.
Dabei sind es einige Grundprinzipien, die bei einer solchen Forschungsarbeit beachtet werden sollen: Wir sind Produkte der Biologie – in jeder Hinsicht. Sowohl unsere „besten“, altruistischen Neigungen als auch die grausamsten Exzesse haben in unserer biologischen Grundausstattung, in unserem evolutionärem Gewordensein ihre Ursache. Umwellt als auch Genetik haben enorme Bedeutung, doch sie determinieren nicht, ihre Einflüsse sind relativ und unsere Möglichkeiten, den Einflüssen zu entkommen, enorm. Dies vor allem deshalb, weil unser Gehirn eine unglaubliche Plastizität besitzt, eine Erkenntnis, die gar nicht überschätzt werden kann (ähnlich argumentiert auch Manfred Spitzer). Die Formbarkeit dieses Organs verleiht uns Freiheit und sie ist grundsätzlich für unser Menschsein (Sapolsky stellt die Zusammenwirkung der verschiedenen Teile des präfrontalen Cortex, der Amygdala etc. sehr ausführlich dar, zeigt auch, dass Rationalisierung ein zweischneidiges Schwert ist und selbst all diese Vorgänge wieder in einem kulturellen Kontext betrachtet werden müssen). Diese kulturelle Komponente hat zur Folge, dass unser moralisches Verhalten immer relativ ist, dass wir nie mit Sicherheit werden wissen können, inwieweit sich Verhaltensnormen ändern (werden) und ein Moralkodex keinen Anspruch auf absolute Wahrheit erheben kann: Gehirne und Kulturen machen einen Prozess der Koevolution durch.
Besonders ist Sapolsky an einer Destruierung des Homunculus gelegen: Es gibt keine irgendwie zentrale Steuerungseinheit, sondern nur ein sich wechselseitig beeinflussendes Organ, dessen Funktion eine Art von Bewusstsein (Ichgefühl) zur Folge hat. Ein Homunculus führt zu Widersprüchlichkeiten und schließlich zu esoterischen oder metaphysischen Thesen: Wissenschaftliche Forschung ist auf der Basis solcher Annahmen nicht möglich. Und neben aller Physiologie ist für „Gewalt und Mitgefühl“ vor allem unser Gruppenverständnis von Belang: Es gibt eine Wir- und eine Sie-Gruppe – und während wir jener oft unsere angenehmsten Seiten zeigen, ist diese ebensoft unglaublicher Grausamkeit ausgesetzt. (Handlungsbestimmend ist dabei zumeist das Gefühl (die Amygdala), wobei eine Rationalisierung nur bezüglich der Sie-Gruppe nottut: Die Ablehnung des Fremden ist zwar intuitiv, aber nicht zwangsläufig.) Und ein m. E. besonders gelungenes Kapitel verdient noch erwähnt zu werden: Jenes über die Willensfreiheit und damit verbunden (und vielleicht noch wichtiger) über unser Justizsystem. Sapolsky zeigt dabei sehr schön, dass eine funktionierende Justiz den Begriff der Schuld, aber auch der Freiheit gar nicht benötigt, im Gegenteil: Indem man sich von solch emotionalen Zuschreibungen freimacht, kommt man zu einem effektiverem Strafsystem, das den Menschen als ein Resultat der Biologie begreift (ausführlicher dazu von mir hier).
Es ist – wie erwähnt – unmöglich, das Buch eingehend zu besprechen: Das würde diesen Rahmen bei weitem sprengen. Aber dem Autor ist hier ein wirklich umfassendes, gut lesbares (auch amüsantes*) Werk gelungen, das ich jeder sich mit dem Menschen und seinem Tun beschäftigenden Person nur empfehlen kann.
*) Es ist selten, dass ich Humor in einem Fachbuch zu schätzen weiß. Aber Sapolsky hat mich immer wieder unterhalten, mit feinen Spitzen, seiner Selbstironie. (Oder auch, indem er eine postmoderne Denkerin ausführlich zitiert und dann in einer Fußnote hinzufügt: Ich habe nicht die geringste Ahnung, was die Autorin damit gemeint haben könnte.)
Robert M. Sapolsky: Gewalt und Mitgefühl. Die Biologie des menschlichen Verhaltens. München: Hanser 2017.
2 Replies to “Robert M. Sapolsky: Gewalt und Mitgefühl”