Sten Nadolny: Selim oder Die Gabe der Rede

Wenn jemand eine Erzählung über das Erzählen schreiben, birgt das die nicht unerhebliche Gefahr, mit den Vapeurs von Schriftstellern mit Schreibhemmung belästigt zu werden (Martin Walsers „Einhorn“ wäre etwa ein solches Produkt). Denn so schlimm und tragisch für den einzelnen eine solche Schreibhemmung auch immer sein mag, noch schlimmer ist es, als Leser mit dem Faktum behelligt zu werden, dass man „eigentlich“ nicht schreiben könne und diese temporäre Unfähigkeit in einer Ausführlichkeit erklärt zu bekommen, die so langweilig wie uninteressant ist.

Und obwohl dieses Buch vom Erzählen erzählt, auch von der Rede, der sich der Erzähler – und die gleichzeitige Hauptfigur – verschrieben hat, von einer Rede, die fesselt, die Wichtiges von Trivialem scheidet und den Vortrag so gestaltet, dass sowohl Auditorium als auch der Vortragende selbst nicht den Faden verlieren, obwohl also die Metaebenen des darüber Nachdenkens und Tuns ständig ineinander gleiten, widersteht Nadolny (fast immer) der Versuchung, neben dem Roman auch ein psychologisierendes Sachbuch zu verfassen. Nur irgendwann im zweiten Drittel des Buches wirken die entsprechenden Ausführungen störend, ansonsten demonstriert uns der Autor das, was er am besten kann: Erzählen.

Alexander, der Protagonist des Romans, erzählt (in der dritten Person) von sich selbst (und meldet sich – in den kursiv geschriebenen Teilen – auch als Erzähler selbst zu Wort), von dem ihn umtreibenden Problem, wie man denn ein guter Redner werden könnte. Seine diesbezüglichen Versuche bzw. Analysen sind anfangs wenig erfolgreich: Weder in der Schule noch bei der Bundeswehr oder später während des Studiums vermag er diesem Geheimnis wirklich auf die Spur zu kommen. Und auch nachdem er von der Ökonomie zur Psychologie wechselt, schließlich gar selbst zum Unternehmer wird, der – erfolgreich – diese Gabe zu vermitteln versucht, wirken diese Versuche wenig zielführend.

Parallel zu diesem deutschen Umfeld wird das Schicksal von einigen türkischen Einwanderern geschildert, die in den 60ern nach Deutschland kommen, um hier – auf verschiedenste Weise – ihre Träume zu erfüllen. Unter ihnen befindet sich auch Selim, der sich anfangs weigert, die deutsche Sprache zu erlernen, der aber die offenkundige Gabe besitzt, durch seine Geschichten seine Zuhörer zu fesseln. Er lebt diese Geschichten während des Erzählens, er erzählt sie den Zuhörern so, wie er es angesichts des Publikums für opportun hält und zieht wie selbstverständlich die Aufmerksamkeit auf sich. Die Wahrheit (was ist Wahrheit?) bleibt dabei oft auf der Strecke, es ist die Geschichte selbst die zählt, ihr Verlauf, ihre Pointen, nicht die getreue Wiedergabe eines Geschehens. (Jeder, der Geschichtenerzählern zugehört hat, weiß, dass die Quintessenz dieses ganzen Prozesses nicht im Faktischen liegt – und nichts ist schlimmer, als Einwürfe von Pedanten, dass dies so oder anders nicht stattgefunden habe: Diese haben nichts von der Funktion des Erzählens verstanden.)

Irgendwann lernen Alexander und Selim einander kennen, schließen Freundschaft und jener beginnt zu erkennen, worin die Kunst der Rede denn wirklich besteht. Aber es ist auch ein Zusammentreffen der Kulturen, von Mentalitäten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. So bleibt diese Beziehung nicht friktionsfrei und nimmt sogar ein tragisches Ende (dass dann, durch die – schon erlernte? – Kunst des Erzählens, mehrfach geändert und modifiziert wird). Es ist die – geschichtenreiche – Schilderung dieser Freundschaft, der zahlreichen mit den Protagonisten verbundenen Personen, die das Buch zu einem wirklichen Genuss machen, wobei es auch eine witzige und gelungene Beschreibung der politischen, gesellschaftlichen Verhältnisse in den 60ern und 70ern darstellt: Der Traum von einem klassenlosen Paradies, das Festhalten an einer Begrifflichkeit, die keiner mehr versteht, an einer Utopie, die keiner lebt oder auch nur leben will. In diesem Milieu werden Reden gehalten, die in ihrer absoluten Leere tiefen Eindruck auf die Hauptpersonen machen, es wird mit Hingabe diskutiert, protestiert, gekämpft – aber wogegen bzw. wofür bleibt selbst den Beteiligten ein Rätsel. Das alles zu beschreiben gelingt Nadolny ganz wunderbar (etwa die Wiedergabe der Gedanken eines Bekifften: Das muss Nadolny aus eigener Erfahrung kennen, ansonsten wäre ihm die Darstellung dieses Zustandens nicht derart brilliant geglückt), jede Person hat Wiedererkennungswert, alle diese Prototypen kennt man aus dem eigenen Leben – und bei aller Tragik des Geschehens ist die Liebe des Autors zu seinen Figuren zu spüren, die Sorgfalt, die er für ihre Zeichnung verwendet. Ergo: Ein Buch zum Genießen.

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