Autumn

Anthologien sind mein Ding nicht: Ich kaufe oder lese selten welche. Diese hier wurde als eine Art Treueprämie meiner vorletzten Bestellung bei der Folio Society beigelegt – der vorvorletzten übrigens auch. Geschenktem Gaul schaut man bekanntlich nicht ins Maul, und ich hätte es wohl auch nicht getan, wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass die vorliegende Anthologie typisch ist für die Art und Weise, wie Anthologien heutzutage für ein bildungsbürgerliches Publikum verfasst werden.

Wie also bastle ich mir eine Anthologie?

Zuerst einmal muss man sich natürlich für ein Thema entscheiden. Dieses Thema wird am besten eines sein, das irgendwie mit der Natur zu tun hat, einerseits, weil Natur immer ‚zieht‘, andererseits, weil zu einem Thema, das mit Natur zu tun hat, auch immer Texte gefunden werden können. Da das Werbegeschenk im Herbst verteilt werden sollte, war es nur natürlich, dass der Herbst auch gleich das Thema sein sollte.

Die Entscheidung für ein Jahreszeitenthema sichert eine grosse Auswahl an Texten und gibt bereits ein Grundgerüst für die Anthologie vor. Die Basis unserer Anthologie werden Gedichte bilden – und Gedichte zur Natur auswählen, heisst, das Schwergewicht auf Romantik und Neo-Romantik legen. Doch nur mit Texten aus der Romantik könnte man den bildungsbürgerlichen Leser auch vergraulen, ist doch die Chance hoch, dass er die grossen romantischen Lyriker bereits in andern Ausgaben zu Hause stehen hat.

Also muss die Selektion ausgeweitet werden. Einerseits zeitlich, indem man ’nach hinten‘ bis ins Mittelalter eventuell sogar bis in die Antike zurückgeht, ’nach vorn‘ wenn möglich bis ins 21. Jahrhundert vordringt. Andererseits örtlich, indem man nicht nur Autoren aus dem eigenen Sprachraum vorstellen wird, sondern auch welche aus fremden. Nicht zu fremd – eine Anthologie mit lauter afrikanischen Autoren und Autorinnen würde nur von einer Minderheit bildungsbürgerlicher Leser wirklich geschätzt werden. Aber der Quoten-Exot darf sicher auch nicht fehlen. Daneben wird man auch auf (im engern Sinn – wir bei litteratur.ch verwenden den Ausdruck ein bisschen anders) nicht-literarische Texte zurückgreifen: Ausschnitte aus Sach- und Fachbüchern müssen unbedingt eingefügt werden. Der Bildungsbürger schätzt das kleine Aha-Erlebnis.

Somit ist die Bastel-Anleitung fertig. Die konkrete Arbeit der Herausgeber ist es natürlich nun, Fleisch zu diesen Knochen zu finden. Im vorliegenden Fall wurde das folgendermassen gelöst:

Als Ausgabe eines englischen Verlags musste die Mehrheit der Autoren auch englisch oder mindestens englischsprachig sein.

Somit dienten als Grundgerüst, in der Reihenfolge ihres Auftretens: William Henry Davies, Edward Thomas, Alfred Edward Housman, John Clare, Christina Rossetti, Elinor Wylie, Llewelyn Powys, A. H. Clough und Robert Welch Herrick aus der neo-romantischen, hierzulande weniger bekannten Ecke;

als literarischer Long- und Bestseller aus dem Bereich der Naturbeschreibung darf Walden von Thoreau nicht fehlen. Aber auch sein Vorgänger Michel-Guillaume Jean de Crèvecoeur (als St John de Crèvecoeur) ist vertreten. Shakespeare? Keine Frage! Und Pepys‘ Tagebuch finden wir auch ;

nicht im engsten Sinn ‚literarisch‘ sind Ausschnitte aus Alison Uttleys Kinderbuch The Country Child, ebenfalls aus der Kinderbuch-Ecke finden wir Laura Ingalls Wilder. Gilbert Whites naturwissenschaftlichem Text The Natural History of Selborne, vogel- und gartenkundliche Bücher (allerdings, was mich erstaunt hat, nicht Vita Sackville-West!) dürfen auch nicht fehlen. Der Universalgelehrte Sir Thomas Browne wird ebenfalls excerpiert. Selbst Auszüge aus zwei Kochbüchern (eines barock, das andere modern) sind eingestellt worden;

von den grossen, im weitesten Sinn romantischen und auch hierzulande bekannten englischsprachigen Autoren sind zu finden: Shelley, Keats, Blake, Stevenson, Burns, Dickens, Lawrence, Austen, Dickinson und Browning;

von den grossen, aber nicht unbedingt Romantik oder Neo-Romantik Zuzuzählenden sind da: Nicholas Breton (Barock), Virginia Woolf, Walt Whitman, Thomas Hardy, Gerard Manley Hopkins,  von den Brontës finden wir Emily;

das 20. bzw. 21. Jahrhundert repräsentieren Edward Storey und Ronald Blythe;

die fremdsprachige Literatur ist vertreten durch Puschkin, Tolstoi, Remarque (was mich verwundert hat, aber wohl darauf zurückzuführen ist, dass Remarque einer der bekanntesten deutschen Autoren im Ausland ist), nicht verwundert hat mich Rilkes Anwesenheit;

zu den Exoten wären zu zählen: ein Brief von Vincent van Gogh. Den Abschluss macht der exotischste der Exoten – ein Zweizeiler des Japaners Matsuo Bashō aus dem 17. Jahrhundert.

Man sieht, wieviel auf knappen 100 Seiten Platz hat.

4 Replies to “Autumn”

  1. Christina Rossetti war italienische Nobelpreisträgerin? Soviel ich weiß, starb sie bevor noch der erste Nobelpreis verliehen wurde. Und zwar in London, wo sie auch geboren worden war.

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