Sigismund Krzyżanowski: Der Club der Buchstabenmörder

Trotz seines polnischen Namens (und seiner polnischen Eltern) hat sich der 1887 in Kiew geborene Sigismund Krzyżanowski zeit Lebens der russischen Kultur zugeordnet. Er schrieb nur auf Russisch und zog 1922 nach Moskau um. Allerdings schrieb er zwar auf Russisch, veröffentlichen durfte er in Stalins Sowjetunion nichts Relevantes. Er schien zwar auf keiner Liste zu stehen, war quasi inexistent, und durfte sogar dem sowjetischen Schriftstellerverband beitreten. Dennoch ist es so, dass man die wichtigen Werke des 1950 verstorbenen Sigismund Krzyżanowski, den man heute zu den Mitbegründern der russischen Moderne zählt, erst seit 1989 in Russland publiziert. Unterdessen hat ihn auch das nicht-russische Ausland entdeckt, und so haben mir mit dem Club der Buchstabenmörder seit 2015 im Dörlemann-Verlag eine Übersetzung seines Hauptwerks (von Dorothea Trottenberg) vor uns.

In seiner Skurilität ähnelt Der Club der Buchstabenmörder dem andern seminalen Werk der russischen Moderne, Bulgakows Der Meister und Margarita. Zuerst einmal scheint Sigismund Krzyżanowski dem klassischen Schema des Novellen-Zyklus zu folgen, wie wir es vom Decamerone kennen. Eine Gruppe von Autoren trifft sich regelmässig jeden Samstag, um sich Geschichten zu erzählen. Dieses klassische Schema wird aber gleich zu Beginn durchbrochen, indem ein Autor (der, bei dem die Treffen stattfinden) einen Aussenstehenden, einen Nicht-Autor, einlädt, an diesen Treffen dabei zu sein. Dies ist der Ich-Erzähler der Rahmengeschichte.

Anlass all der Treffen war der Umstand, dass des Ich-Erzählers Freund, ein bekannter Autor, dem Ich-Erzähler eröffnet, wie er als noch junger, unbekannter und dem Hungertod näher als dem literarischen Durchbruch stehender Mann seine ganze Bibliothek verkaufen musste, um am Begräbnis seiner Mutter teilnehmen zu können. Im Folgenden störte es ihn anfangs, nicht mehr die Möglichkeit zu haben, ein Zitat sogleich nachschlagen zu können, oder abends vor dem Einschlafen noch in Cervantes‘ Novellen zu schmökern. Doch irgendwann merkte er, dass dies seine Phantasie beflügelte. Er begann, Cervantes Novellen selber nachzubilden – zuerst wortgetreu, dann aber je länger desto unabhängiger vom Original. Sein Wutz’sches Vorgehen half ihm, seine Kreativität wiederzufinden und sich schliesslich einen Namen als Autor zu machen. Dann aber merkte er, wie diese seine Kreativität wieder verschwand. Erst, als er sich in einen Raum einschloss, dessen Mobiliar nur aus einem Stuhl bestand, begann seine Phantasie wieder zu blühen – jeder Versuch allerdings, seine Phantastereien niederzuschreiben, endete im Fiasko. Unser Autor fand durch Zufall heraus, dass es andern ähnlich ging. Zusammen gründeten sie den Club der Buchstabenmörder, eine Vereinigung, die sich einmal in der Woche im nun mit mehr Stühlen ausgestatteten Raum des ersten Autors traf. Abwechselnd erhielt einer das Wort und den Schlüssel zum Raum. Der erzählte dann den übrigen eine Geschichte, der die andern wortlos zuzuhören hatten. Keinem war gestattet, diese Geschichten im Nachhinein noch niederzuschreiben – auch nicht dem Erst-Erzähler.

Der Leser nimmt zusammen mit dem Ich-Erzähler an ein paar solchen Sitzungen teil. Die Themen der Binnen-Erzählungen sind sehr unterschiedlich. Da entdeckt einer die Gestalt und die Musik des St. Galler Mönchs Notker und in ihr eine neue Sprache. Da wird im Stil von Boccaccios Novellen die Geschichte von Wandermönchen erzählt, und in der längsten und vielleicht wichtigsten Erzählung wird von einer Entdeckung erzählt, die es den Machthabenden in einem ungenannten Land ermöglich, das Hirn vom übrigen Körper derart zu trennen, dass die Menschen zwar noch denken können, was sie wollen, ihre Muskeln aber einer Fremdbestimmung unterworfen sind. Zuerst für die Kontrolle gefährlicher Geisteskranker gedacht, wird schon bald praktisch das ganze Volk dieser Kontrolle unterworfen.

Zum Schluss erfahren wir, wie sich einer der regelmässigen Teilnehmer an dem Zirkel selber umbringt – dies, nachdem er sich offenbar  von einer Geschichte eines Kollegen in seiner tiefsten Existenz  getroffen fühlte. Und ganz zum Schluss sehen wir, sie sich der bis anhin absolut nicht schriftstellernde Ich-Erzähler von der Gewalt der Worte erfasst sieht. Er muss seine Erlebnisse im Club der Buchstabenmörder niederschreiben. Einmal die Niederschrift beendet, ist es auch mit seinem schriftstellerischen Dasein vorbei:

Hier – ich gebe die Wörter zurück; alle, außer einem: das Leben.

Die Macht des Wortes über den Menschen, die Macht des in Bibliotheken geballten Wortes über den Schriftsteller, die Macht der Sprache an sich – das sind Sigismund Krzyżanowskis Themen. In gewisser Weise mischt er so den frühen Wittgenstein mit Borges – ohne, dass er die beiden gekannt hätte, oder sie ihn. Der Club der Buchstabenmörder hat 2015 im Feuilleton ein bisschen für Aufruhr gesorgt – zu Recht, wie ich denke. Es handelt sich hier um einen durchaus lesenswerten Text.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert