René Cloke: Das Haus unter der alten Eiche

Wir bewegen uns mit diesem Werk nicht im Rahmen der konventionellen Tierfabel im Sinne Äsops oder Lafontaines, als dass eine einzige, spezifisch menschliche Eigenschaft durch ein Tierwesen verkörpert würde; das Dasein des Protagonisten Flip wird vielmehr auf eine Metaebene gehoben, von der aus sein existentialistischer Versuch einer Steuerung seines Geworfenseins betrachtet werden muss. Und wir werden vom Autor über das movens seiner (Flips) Entscheidung im Unklaren gelassen: Ist es die absolute Kontingenz seines Daseins, sein prospektives Scheitern an einer reaktionär-bourgeoisen Um- und Mitwelt, die ihn zu seinem Entschluss bewegen, der Geborgenheit im elterlichen Umfeld zu entsagen oder ist es der Versuch, sich in fundamental-ontologischer Weise zu seinem Da-Sein in Bezug auf das Seiende aber auch auf sich selbst in aktiver, lebensbestimmender Weise zu verhalten?

Diese Fragen lässt der Autor unbeantwortet, einzig die repressive Umgebung wird thematisiert, wenn Flips Schwester erklärt, dass „Mama dich nicht wird gehen lassen“. Aber unser Protagonist ist sich der ihm mit dem Da-Sein aufgebürdeten Verantwortung bewusst, niemals kann der Entwurf dieses Seins in der bloß passiven Rezeption der Möglichkeiten bestehen, das Sein muss gelebt, erlebt und erfahren werden und er trotzt aller Widrigkeiten mit einem puristischen „ich gehe einfach“. Hier wird die Überwindung der Hegelschen Konzeption von Freiheit als einer Einsicht in die Notwendigkeit deutlich gemacht, die Nähe Flips zu Sartres Roquentin im „Ekel“ mit seinem individualisierenden Freiheitsbegriff offenkundig. Denn es ist die innere Notwendigkeit, die ihn zu seinem Entschluss führt, aber auch die Kontingenz des bürgerlichen Wahrheitsbegriffes, die von Flip nicht mehr traditionell, sondern im Sinne des Neopragmatismus verstanden wird.

Nach der Flucht wird Flip angesichts der Natur ein Damaskuserlebnis zuteil: Er, der im Seienden verankert war, erkennt die eigene Seinsvergessenheit, tauscht die subjektive Rationalität descartescher Provenienz und bekehrt sich zu einer holistischen Sicht, in der die Dichotomie von Subjekt und Objekt aufgehoben erscheint („wie schön ist doch die Welt!“ S. 3 f.). Doch mit dem Auftritt des „anderen“ wird die neu gewonnen Freiheit fragwürdig: Mausi verweist auf die Bequemlichkeiten der bürgerlichen Existenz, erinnert an das zwischenmenschliche Beziehungsgefüge, von dem Flip sich zu emanzipieren suchte und bedient sich einer subtilen Strategie, um dem bürgerlichen Renegaten sein Tun zu verleiden: Sie offeriert ihm eine enge, unangemessene Wohnung, die der noch unerfahrene, existentialistische „Parzival des Wichtelwaldes“ als seiner unwürdig zurückweist. Ähnlich verfahren Benji Eichhörnchen als auch Flori Frosch, die, der ökonomisch prekären Lage des Suchenden wenig verständnisvoll gegenüberstehend, mit ihren Ratschlägen die durch das Freiheitsstreben Flips gefährdete gesellschaftliche Ruhe wiederherzustellen suchen, indem sie die quidditas Flips hinsichtlich seiner Möglichkeiten in Frage stellen.

Vereinsamung und ein lebensbedrohender Unfall folgen: Und nicht zufällig erfolgt seine „Rettung“ durch das dem Menschen sklavisch ergebene Lebewesen, die Kuh, die im bloß Dienenden, Nährenden ihre Aufgabe sieht und in keiner Hinsicht die Selbstverwirklichungstendenzen Flips anzuerkennen in der Lage ist. Täuschung und billige Polemik bringen den Titelhelden in jene Gefilde zurück, die zu verlassen er sich anschickte: Nietzscheanische Wiederkehr ohne aber jene notwendige Affirmation des Überhasen, die diesem ewigen Kreislauf Sinn verliehen hätte. Die reaktionäre Falle schließt sich, Mamas Abendbrot und ein wärmendes Bett vermögen mehr als individuelles Freiheitsstreben.

Ist nun das Diktum einer mir bekannten und hochgeschätzten Literaturkritikerin tatsächlich berechtigt, wenn sie Flip defizitäre Intellektualität oder mangelnden Realitätssinn konzediert oder ist sie nicht vielmehr selbst ein Opfer einer sie mit Weihnachtskeksen und Konsum manipulierenden Umwelt, die mit billigem Tand sich ihres Seins zu bemächtigen sucht und ebenfalls das Primat des Seienden auf Kosten des Seins als das einzig Wahre ihr suggeriert? Metaphysisch-materialistische Ersatzdrogen, die dem aufkeimenden Freiheitsverständnis und der Radikalität eine individuellen Selbstverwirklichung einen Riegel vorschieben? Vielleicht aber ist die von ihr zur Schau getragene Zustimmung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen auch bloße Tarnung, eine Schimäre, die den in ihr schlummernden revolutionär-anarchischen Charakter (Flips?) vorläufig einer Kenntnisnahme entziehen.

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