Dino Buzzati: Die Tatarenwüste

Schon nach wenigen Seiten weiß man: Ohne Kafka wäre das so nie geschrieben worden. Das muss nun noch nichts bedeuten, auch wenn gerade Kafka-Epigonen sich in besondere Gefahr begeben: Denn es reicht nicht, surreale Traumwelten zu erschaffen, man muss sie sprachlich als auch – und vor allem – inhaltlich bewältigen, wovon die zahlreichen (mediokren) Traumsequenzen anderer Schriftsteller Zeugnis geben. Bei dem vorliegenden Buch ist das eine Gratwanderung, die nicht immer gelingt: So implementiert er tatsächlich einen Traum, der mehr als peinlich wirkt und augurenhaft den Tod eines befreundeten Offiziers zum Inhalt hat.

Giovanni Drogo ist die tragische Hauptperson dieses Romans, ein junger Mann, der seine Offiziersausbildung beendet hat und nun glaubt, Anspruch auf das große Leben erheben zu können. Er wird der Festung Bastiani zugeteilt, einem abgelegenen Stützpunkt weit entfernt in den Bergen, von dem aus man in die zum feindlichen Gebiet gehörende Tatarenwüste sieht. Gleich nach der Ankunft denkt er bereits an Flucht, will seine Versetzung beantragen: Doch er lässt sich zu einem vorläufigen Aufenthalt bewegen, ein Aufenthalt, von dem man schon zu diesem Zeitpunkt weiß, dass er kein (oder ein tragisches) Ende finden wird. Die Festung übt eine eigentümliche Anziehungskraft aus trotz (oder wegen) der absoluten Einsamkeit, von der man umgeben ist, dem monotonen Wachdienst, dem soldatischen Einerlei. Und so werden auch für Drogo aus den vier Monaten vier Jahre, Jahre, die langsam und doch wie im Flug vergehen, aber eine immer absehbare Zeitspanne sind: Denn der junge Leutnant ist davon überzeugt, dass das große Leben immer noch auf ihn wartet.

Nach Ablauf dieser vier Jahre scheint alles seinen normalen Gang zu gehen: Wäre da nicht Verringerung der Mannschaftsbesatzung auf der Festung, von der ihm niemand erzählt hat und die durch das verspätete Einreichen seines Gesuches verhindert, auch versetzt zu werden. Aber schon während dieses Urlaubes wird offenbar, dass er dem ganz normalen Leben abhanden gekommen ist: Er vermag sich kaum noch mit seinen Freunden zu unterhalten, ihre Ambitionen, Interessen berühren ihn nicht, der ehemaligen Liebe, Schwester eines Freundes, hat er nichts mehr zu sagen. Und so ist die Rückkehr nach Bastiani die scheinbar richtige Konsequenz.

Dort dreht sich nach wie vor alles um einen möglichen feindlichen Angriff, der von der Tatarenwüste aus erwartet wird. Man macht sich gegenseitig Hoffnung auf den Krieg, sieht sich als künftigen Helden, ordengeschmückt, tapfer, dem Vaterland treu ergeben. Aber die Feinde lassen auf sich warten, die Wüste bleibt nahezu unberührt, erst als dort eine Straße gebaut wird, erwacht von Neuem die Hoffnung auf kriegerische Auseinandersetzung, die einzige Hoffnung, die die Besatzung von Bastiani noch hegt. Doch über all dem Warten vergehen die Jahre, Jahrzehnte, Kommandanten werden abgelöst, wenige junge Offiziere noch aufgenommen, ansonsten ist alles eine ewige Wiederholung, die nur von den sich immer wieder als Schimären herausstellenden Kriegshoffnungen unterbrochen wird.

Drogo wird alt auf der Festung, er erkrankt und kann seinen Dienst nur noch eingeschränkt versehen. Da geschieht das Unglaubliche – Truppenkonzentrationen im Norden, Verstärkung für die Festung, ein Krieg steht (endlich!) bevor. Doch für Drogo kommt diese Wendung zu spät: Er ist als schwererkrankter Offizier in dieser Situation nur noch eine Last und wird vom Kommandeur der Festung zur Erholung in die Ebene geschickt. Es ist seine letzte Reise, in einem Zimmer eines abgelegenen Gasthofes erwartet ihn bereits der Tod: Den er nun nach anfänglicher Abwehr willkommen heißt in letzter Pflichterfüllung. „Giovanni nimmt seine letzten Kräfte zusammen, richtet den Oberkörper ein wenig auf und bringt mit einer Hand den Uniformkragen in Ordnung. Er blickt noch einmal aus dem Fenster und wirft einen flüchtigen Blick auf sein letztes Stück Sternenhimmel. Dann lächelt er im Dunklen, obgleich ihn niemand sehen kann.“

Drogo ist ein Paradebeispiel für den existentialistischen Helden, für den ewig Wartenden, dem – nicht unähnlich dem Protagonisten in Kafkas Parabel vom Gesetz – am Ende seines Lebens jenes Tor verschlossen wird, das – vermeintlich – Glück und Seligkeit verbarg. Er harrt auf der Festung aus, glaubt lange, das Leben vor sich zu haben und erkennt erschreckt (und zu spät), dass die Jahre ungenützt verstreichen, die Zeit zerrinnt zwischen ermüdender Gleichförmigkeit und obskuren Hoffnungen. Und es ist ein zusätzliches Kuriosum, dass das, worauf Drogo wartet, der Krieg ist, das er nichts mehr wünscht als einen Ansturm der Feinde, um sich auszeichnen zu können. Der Krieg, der mögliche Tod als Ersatz für ein nicht gelebtes Leben, wobei es offenkundig ist, dass Drogo auch durch das Leben in der Stadt sein Glück nicht gefunden hätte. Denn schon am Beginn des Romanes, nach Absolvierung der Offiziersprüfung, stellt er konsterniert fest, dass er jene Freude nicht zu empfinden vermag, die diesem Abschluss entsprechen würde. Dasselbe bei seiner Rückkehr in die Stadt nach vier Jahren: Wäre es tatsächlich sein Wunsch, zurückzukehren, ein normales Leben zu führen, Karriere zu machen, so würde er sich von den Kalamitäten um seine Versetzung nicht beunruhigen lassen. Er empfindet es als eine Art persönliches Schicksal, vorläufig auf die Festung zurückkehren zu müssen – und er ergibt sich in dieses Schicksal. Der Rest, die Träume von Feind und Ehre, dient bloß noch dazu, die Lebensberechtigung nicht gänzlich zu verlieren, sich und den anderen etwas vorzugaukeln, um überhaupt weiterleben zu können (der eingangs erwähnte Offizier, dessen Tod Drogo – literarisch höchst fragwürdig – träumt, nimmt einen anderen Weg: Er begeht eine Art Selbstmord durch Über-Pflichterfüllung).

Ich habe das Buch über weite Strecken sehr gern gelesen (von der unsäglichen Traumsequenz einmal abgesehen) – und es gibt wohl auch weitere Interpretationsebenen: So ist dieses Buch 1945 erstmals erschienen und es mag einigermaßen befremdlich gewirkt haben, dass der größte, ja schließlich einzige Wunsch des Helden der nach einem Krieg, nach Schlachten war. Dies scheint das pervertierte Sehnen eines sinnentleerten Lebens zu spiegeln, ein Leben, das als leer und hoffnungslos empfunden wird und dem selbst der Tod als Erfüllung erscheint. Assoziationen an Camussche Figuren stellen sich automatisch ein und man sieht Drogo seinen Stein des Sisyphos Tag um Tag wälzen, ohne aber den von Camus geforderten Sinn darin zu erblicken. Und man folgt dem Offizier gerne auf diesem Weg, Buzzati vermag eine Art Sog zu erzeugen, sodass man das Buch nur schwer aus der Hand legen kann. In jedem Fall lesenswert.

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